»Ja. Aber was nützt einem das, wenn es zu spät ist? Ich hätte Liri finden müssen. Rechtzeitig.« Er schenkte sich noch einen Schnaps ein und stürzte ihn hinunter. »Seit damals brannte es in mir. Meine Eltern wollten, dass ich ihre Algengärten pflege. Aber ich bin bei einem Sucher in die Lehre gegangen. Ich hatte Glück. Er konnte mir Vieles beibringen. Alles Weitere habe ich mich selbst gelehrt.«
»Selbst gelehrt?«
»Ja. Ich habe alles ausprobiert, und das, was geklappt hat, übernommen. Es so lange geübt, bis es ging. Tagelang, wochenlang. Monatelang. Ich war besessen damals. Aber das hat mich gerettet, Kleiner, das hat es.«
Wie gebannt hörte ich ihm zu. Wahrscheinlich hatte er all das noch nie jemandem erzählt. Sonst hätte es Geschichten darüber gegeben, oder zumindest Gerüchte.
»Der Tod ist ein seltsamer Genosse«, sagte Udiko. »Er zeigt dir, was wichtig ist. Manche Dinge, die man verloren hat, findet man niemals wieder – und wenn man das weiß, dann hält man sie fest, so lange man kann.«
Ja, dachte ich. Wenn ich gewusst hätte, dass meine Mutter schon so bald sterben würde, hätte ich vielleicht ... Ich hätte ihr weniger Ärger machen, ihr öfter sagen können, was sie mir bedeutet ...
Ich merkte, dass meine Augen sich mit Tränen füllten. Und fing an zu reden.
Ich erzählte ihm alles. Wie schön meine Mutter gewesen war, und wie stolz ich auf sie gewesen war, wenn mal wieder eine ihrer Aufführungen die Gegend begeistert hatte. Wie hilflos ich mich gefühlt hatte, als eine Epidemie der Rotpocken in unserer Gegend ausgebrochen und sie krank geworden war. Wie schlimm es gewesen war, dass niemand mir gesagt hatte, wie es wirklich um sie stand. Wie wenig Trost es in meiner Familie gegeben hatte. Meine Schwestern hatten bald darauf an anderen Orten ihre Lehre begonnen, und mein Vater war ein strenger, stolzer Mann, der ungern über Gefühle redete.
Udiko unterbrach mich nicht. Er hörte einfach zu, nickte hin und wieder. Nachdem ich einmal angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Ich erzählte ihm von Lourenca, wie viel sie mir bedeutete, wie wir zusammen geschwommen waren. Wie ich sie an Jarco verloren hatte, mit dem ich damals ständig herumgehangen und Blödsinn gemacht hatte. Auch ihn zu verlieren, war schwer gewesen, aber ich hatte es nicht ertragen, die beiden zusammen zu sehen.
Plötzlich fragte ich mich, wie Udiko nach dem Tod seiner Schwester mit Frauen klargekommen war. Hatte er unbewusst seiner ersten Freundin die Schuld daran gegeben, was passiert war? Hatte er deswegen so darauf bestanden, dass ich mich während der Lehre bei ihm von Mädchen fernhielt? »Ihr habt nie mit einer Partnerin den Bund geschlossen, oder?«
»Nein. Ich habe nie jemanden gefunden, der mir so viel bedeutet hätte. Aber ich habe auch nicht besonders intensiv nach der Liebe gesucht. Es gab andere Dinge in meinem Leben.«
»Was war Euch wichtig?«
»Zu suchen. Zu finden. Das ist meine Bestimmung in dieser Welt.«
Auf einmal klangen Janors Worte in meinem Ohr. Du bist ein Suchender. Immer und immer wieder. Plötzlich fühlte ich mich verzweifelter denn je. Ich war anders als Udiko. Ohne Liebe konnte ich nicht leben. Aber ich war auch ein Sucher, so wie er. Schon jetzt, nach diesen wenigen Wochen, wusste ich das. Mein Blick fiel auf die Muschel, die zwischen uns lag. Ich wusste nicht, ob ich es über mich bringen würde, sie zu zerbrechen. »Gebt mir einen Rat, Udiko – Brackwasser, was soll ich tun?«
»Ich kann dir keinen Rat geben, Kleiner. Du würdest ihn nicht annehmen.« In Udikos Stimme schwangen Unruhe und Sorge mit. Er sah mir in die Augen, und ich begegnete seinem Blick, wich ihm nicht aus. Vielleicht sprach er deshalb weiter. »Aber ich gebe dir ein paar Fragen, die du dir stellen kannst. Wenn du ehrlich mit dir selbst bist und dich nicht mit einfachen Antworten zufrieden gibst, werden sie dir den Weg weisen. Bist du einverstanden?«
Ich nickte.
»Es sind nur drei Fragen. Die erste: Warum ist sie hier? Die zweite: Warum hat sie dich damals verlassen? Und die dritte: Würde sie für dich das Gleiche tun, was du jetzt für sie tun willst?«
Damit ließ er mich allein. Ich streckte mich auf dem Buntalgenteppich aus und starrte zur Wasseroberfläche. Inzwischen war es stockduster dort oben, alle drei Monde waren wieder untergegangen. Wir hatten die ganze Nacht geredet. Bis zur Dämmerung musste ich mich entscheiden.
Warum war Lourenca hier? Wegen mir. Sie war wegen mir gekommen, und einen Moment lang kostete ich noch einmal diese Szene aus, als sie im Eingang der Kuppel gestanden und mich beschrieben hatte. Doch dann erinnerte ich mich daran, was sie später erzählt hatte. Ja, sie hatte einen Umweg in Kauf genommen, sie hatte sich wegen mir zu Udiko getraut. Aber in der Gegend war sie ohnehin gewesen, sehr weit hatte sie es also nicht gehabt. Daheim in Colaris war es anscheinend noch immer ein heißes Thema, dass ich Udikos Lehrling geworden war. Vielleicht war sie einfach neugierig gewesen.
Dieser Gedanke schmerzte wie ein Messerschnitt. Ich brachte es kaum über mich, mir die nächste Frage zu stellen. Schon oft hatte ich darüber gegrübelt, warum Lourenca mich verlassen hatte, dann aber versucht, es lieber ganz zu vergessen. Nun, mit ein paar Monaten Abstand, fiel es leichter, darüber nachzudenken. Vielleicht wollte sie mich nicht mehr, weil ich sie zu sehr geliebt hatte – es wurde ihr zu ernst. Und im Grunde hatten wir nicht wirklich zusammengepasst.
Lourenca neigte zur Schwermut, ihre Launen wechselten wie das Wetter. Sie mochte es, wenn ich sie zum Lachen brachte, wenn ich ihr Dinge zeigte, die sie staunen ließen über die Welt, die uns umgibt. Inzwischen aber hatte ich begriffen, dass das, was mich bis ins Innerste faszinierte, für sie nur eine nette Abwechslung war, die man anschaute und wieder vergaß. Jarco war – so wie ich – beliebt in der Gegend, aber größer und stärker. Er hatte ein eigenes Auslegerboot und nicht ständig ein neues, eigenartiges Tier über der Schulter hängen. Sie hatte Spaß daran gehabt, Jarco und mich gegeneinander auszuspielen, wurde mir klar. Wie ein Kind, das aus Übermut ein Schneckengehäuse zerbricht, mit dem es eben noch gespielt hat.
Ich wusste, was Udikos dritte Frage bezweckte. Dahinter lauerten andere Fragen, auch sie gefährlich. Will sie, dass es mir gut geht? Ist ihr das so wichtig wie ihr eigenes Glück? Wenn ja, warum bittet sie mich dann, etwas zu tun, was so schlimm für mich ist?
Ich gab mir die Antwort, und ich war ehrlich mit mir selbst. Nein, Lourenca hätte das für mich nicht getan. Und ich wäre auch nie auf die Idee gekommen, sie darum zu bitten.
Lautlos stand ich auf, ging in mein Zimmer und packte mein Reisebündel wieder aus. Die Muschel legte ich zurück an ihren Platz. Dann zog ich meine Schwimmhaut an, um zum Treffpunkt zu tauchen – und Lourenca zu sagen, dass ich nicht mit ihr kommen würde.
Bewährungsprobe
Lourenca war verärgert, als ich ihr absagte, und ließ eine spitze Bemerkung über Chancen fallen, die ich verpasste. Aber wirklich traurig schien sie nicht. Wahrscheinlich würde sie die ganze Sache in ein paar Tagen vergessen haben. Ich war sehr froh, dass ich Udikos Rat gefolgt war.
Jemand, der mich und meinen Meister nicht gut kannte, hätte wahrscheinlich nur wenige Veränderungen bemerkt. Udiko war immer noch genauso knurrig, und ich stellte weiterhin unverschämte Fragen, wenn mir danach zu Mute war. Doch die Sache mit Lourenca hatte etwas zwischen uns verändert. Mir wurde dadurch klar, wie sehr er mich mochte. Es hätte ihn keine drei Atemzüge und einen Fluch gekostet, unsere Muschel zu zerbrechen und mich als misslungenes Experiment abzuschreiben. Stattdessen hatte er mir ein Stück seines Lebens geschenkt. Er wiederum wusste nun endgültig, was die Lehre bei ihm mir bedeutete.
Wir hatten keine Geheimnisse mehr voreinander, und das war gut so.
Von diesem Zeitpunkt an machte ich rasante Fortschritte. Ich war wie Udiko damals – besessen. So muss sich ein Vogel fühlen, der zum ersten Mal seine Schwingen ausbreitet und die Kraft zu fliegen in sich spürt. Udiko merkte es und gab mir immer schwierigere Aufgaben. Sicher auch, um mich von meinem Kummer abzulenken.
Er zeigte mir die Geheimnisse der Riesentangwälder,