Ich war so vertieft in den Anblick des Reihers, dass ich Udikos Aufbruch fast übersehen hätte. Ich bemerkte gerade noch, dass Udiko um eine der Inseln herumschwamm, die den Übergang zum nächsten See markierten. Brackwasser, gleich würde ich ihn verlieren! So schnell ich konnte, kraulte ich hinter ihm her. Hastig umrundete ich die Landzunge ... und prallte fast gegen die massige Gestalt des Suchers. Udiko stand mit gekreuzten Armen im flachen Wasser und sah aus wie einer, dessen Berufung es war, dreimal täglich gegen Raubquallen zu kämpfen. »So langsam habe ich die Faxen dicke«, donnerte er. »Wieso denkst du eigentlich, dass du ein guter Sucher werden könntest?«
Hoffnung keimte in mir auf. Endlich kam ich voran! Aber eines war klar, ich konnte dem Großen Udiko nicht von der Deutung erzählen. Wenn er auch zu denen gehörte, die Vorhersager für Scharlatane hielten, hätte ich damit meine letzte Chance verspielt. »Ich kenne mich in Vanamee gut aus, ich habe es den ganzen letzten Winter über erforscht«, antwortete ich nicht ohne Stolz. »Besonders die Gegenden von Colaris, Uskali und Yanai sind mir so vertraut wie meine eigene Handfläche.«
Der Große Udiko sah nicht beeindruckt aus. »Ja, und? Das ist nicht so wichtig.«
Ich war verblüfft. Nicht so wichtig? Musste man sich nicht auskennen, um etwas finden zu können? Oder wenn es darum ging, Reisende zu ihrem Ziel zu führen? Na ja, machte nichts. Ich war noch nicht fertig. »Wenn in unserer Siedlung etwas oder jemand verloren gegangen ist, sind die Leute immer zuerst zu mir gekommen und haben mich um Hilfe gebeten. Und es hat mir Spaß gemacht, ihnen zu helfen.«
Der Große Udiko machte sich bereit zum Wegschwimmen.
»He!«, schrie ich. »Wie wär's mit einem Hinweis? Ich meine, gut, Ihr könnt wahrscheinlich durch Gedankenkraft Dinge finden, aber es gibt doch bestimmt auch ganz normale Sucher ... Mehr will ich ja gar nicht werden ...«
Ganz plötzlich wandte sich der Große Udiko mir zu. »Ich sag dir was, Kleiner. So was wie eben – das wäre einem Sucher nicht passiert.«
Eben? Ich wusste nicht mal, wovon die Rede war.
»Du bist eben auf mich geprallt, weil du nicht gemerkt hast, dass ich hinter der Biegung angehalten habe. Ein Sucher hat gelernt zu sehen. Wirklich zu sehen. Und er weiß, wie man durch die Augen von anderen sieht.«
»Verstehe ich nicht.«
»Das war mir klar.« Wieder wandte sich Udiko um, aber er blickte noch einmal über die Schulter zurück. »Ach übrigens: Du hast eine Karo-Natter am Arm. Beweg dich besser nicht zu rasch, sonst beißt sie dich.«
»Sie wird mich nicht beißen«, sagte ich, und diesmal war es an Udiko, verdutzt dreinzublicken.
Am nächsten Tag begannen dicke Wolken, den Himmel zu bedecken. Ich ließ mich an der Oberfläche treiben und genoss den kühlen Wind. Der Regen prasselte auf mein Gesicht, und ich öffnete den Mund und fühlte, wie die Tropfen auf meiner Zunge kitzelten. Regen ist, wie das Wasser der Quellen, ein Geschenk von Erin, dem Gott der Erneuerung; ohne ihn würden die Seen austrocknen.
Doch Erin schien schlechter Laune zu sein. Als ich sah, wie die Wolken sich immer dunkler ballten, wurde mir mulmig zumute. Wenn ein Gewitter kam, wurde es gefährlich in den Seen, dann musste man raus aus dem Wasser oder in eine Wohnkuppel flüchten. Doch die einzige Kuppel in der Gegend gehörte dem Alten. Sollte ich ihn um Gastrecht bitten? Niemals, dachte ich trotzig. Ich mochte hartnäckig sein, aber ich hatte meinen Stolz. Blieb also nur die Insel, die eine schmale Landbrücke zwischen den Seen bildete.
Ich schwamm auf den felsigen Strand zu, kletterte an Land und balancierte mit verzogenem Gesicht über die scharfen Steine des Ufers. Mein linker Fuß blutete schon. »Verdammtes Festland«, murmelte ich und schaute mich nach einer geschützten Stelle um. Inzwischen peitschte der Regen so hart und eiskalt herunter, dass es nicht einmal für jemanden, der zur Wasser-Gilde gehörte, angenehm war. Das laute Rauschen übertönte alle anderen Geräusche.
Es gab keine geschützte Stelle, die Insel bestand nur aus Fels und niedrigem Gestrüpp. Schließlich kauerte ich mich unterhalb einer kleinen Anhöhe auf den Boden, wo die Gefahr, von einem Blitz getroffen zu werden, am geringsten war. Ich zog die Knie an, legte den Kopf darauf und richtete mich auf eine ungemütliche Nacht ein. Zum ersten Mal, seit ich den Großen Udiko belagerte, überlegte ich, ob ich nicht besser aufgeben sollte. Vielleicht war Udiko wirklich ein gemeiner Mistkerl, wie die Leute behaupteten. Es war eine idiotische Idee gewesen, herzukommen ... Immerhin gab es noch viele andere Sucher in Vanamee; einer von ihnen würde mich schon nehmen, und diesen pisswarmen See würde ich sowieso nicht vermissen ...
Ich schrak auf, hob den Kopf. War da nicht eine Stimme gewesen ...? Ja, ich hatte mich nicht getäuscht. Doch über dem Prasseln des Regens und dem Donner verstand ich kein Wort.
Zehn Atemzüge später sah ich ungläubig, dass eine riesige Gestalt, von der das Wasser herunterströmte, aus der Dunkelheit auf mich zukam. Es war der Große Udiko, und er zog ganz ähnliche Grimassen wie ich vorhin, als er sich über die spitzen Steine vorantastete. »Bei allen sieben Göttern der Tiefe, diese Insel ist eine Zumutung! Los, komm mit. Hier ist es zu gefährlich.«
Ich war so erstaunt, dass mir keine Antwort einfiel. Ich hinkte hinter dem Alten her zum Wasser zurück und tauchte mit ihm zu der Behausung am Boden des Sees. Dann stand ich verlegen im Vorraum der Luftkuppel, rieb mir das Wasser aus den Augen und wartete darauf, dass meine Schwimmhaut trocknete. Der Große Udiko schob den Vorhang beiseite und ging in den Wohntrakt, ohne sich noch einmal umzuschauen. Ich folgte ihm.
Hier am Grund des Sees war es so still, dass ich mir einbildete, das Blut in meinen Ohren rauschen zu hören. Es roch nach feuchtem Stoff, Gewürzen und ganz entfernt nach einer appetitlichen Suppe.
Neugierig blickte ich mich im Inneren der Luftkuppel um. Sie wurde durch zwei Leuchttierchen, die genauso alt und rundlich waren wie ihr Herr, mehr schlecht als recht erhellt. Soweit ich erkennen konnte, waren alle Räume voll gestopft mit Gegenständen. Überall standen und lagen achtlos gestapelt wunderschön gestaltete Essschalen, Glasgefäße, Schnitzereien, Kästchen aus wertvollen Metallen, Schriftrollen. Der Teppich war aus Buntalgen gewebt. Alles war bester Qualität, aber nichts passte zusammen. Wahrscheinlich waren es alles Geschenke von Leuten, denen er geholfen hatte.
Der Große Udiko beachtete mich immer noch nicht. Er goss Trinkwasser in eine große Schale, murmelte eine Formel, die es erhitzte, und streute Cayoral hinein. Wir schwiegen beide, während wir darauf warteten, dass der Sud kochte. Dann goss Udiko einen Teil davon in einen Becher und reichte ihn mir.
»Danke«, sagte ich, nahm den Becher mit beiden Händen und beugte kurz den Kopf, wie es Sitte war. »Auch fürs Gastrecht. War nicht so gemütlich da draußen.«
Der Alte brummte etwas, das ich nicht verstand, und warf mir eine Rolle Stoff zu. »Hier, für deinen Fuß. Bevor du auf meinem Teppich noch mehr Blutspuren hinterlässt.«
Ich verband meinen Fuß und schaute mich unauffällig weiter um. Schräg neben mir stand eine kleine silberne Statue, die ein fauchendes echsenähnliches Wesen darstellte. Ich betrachtete sie aus den Augenwinkeln. Schließlich gab ich meiner Neugier nach und ließ die Finger darüber gleiten. »Wo habt Ihr die her? Und was ist das für ein Tier?«
»Hast du noch nie ein Tass gesehen?«, brummte Udiko. »Sie leben in der Provinz der Feuer-Gilde. Die Statue hat mir ein Schmied geschenkt, dessen Sohn ich halb ertrunken aus dem Akjat-Fluss gezogen habe. Der Junge hatte sich beim Versuch, bei einer Gildenfehde mitzumischen, böse verschätzt.«
»Ich wusste gar nicht, dass auch Feuer-Leute nach Vanamee kommen. Ist für die das viele Wasser nicht unerträglich? Was war das denn für eine Gildenfehde? Und was ist eigentlich das da – und das?« Ich deutete auf ein Kästchen mit eigenartiger Form, das aus tiefschwarzem Holz geschnitzt war, und auf eine unterarmlange grüne Klaue, die daneben hing.
Der Große Udiko grunzte. »Du bist ein neugieriger Bursche, was?«
Ich musste lachen. »Geht die Sonne im Osten auf?«