»Er ist in Ordnung – ich kann ihn gut leiden, und er bringt mir eine Menge bei«, wich ich aus.
»Das war eine ganz schöne Sensation in Colaris, dass er dich als Lehrling genommen hat.« Lourenca grub die Hand ins Ufer, ließ die Steine durch ihre Finger rinnen. »Als meine Eltern etwas in der Nähe von Xanthu zu tun hatten, habe ich sie so lange bequatscht, bis ich mit durfte.«
Ich dachte nicht darüber nach, ob es klug war, meine Gefühle offen zu zeigen. Das Einzige, was ich jetzt schaffte, war, ehrlich zu sein. »Es war ein ganz schöner Schock, dich hier zu sehen.«
Sie ging nicht darauf ein. »Was bringt er dir so alles bei?«
Ich erzählte ihr von den seltsamen Übungen, von dem, was er mich lehrte, und je länger ich redete, desto weniger konnte ich meine Begeisterung verbergen. Mit einem halben Lächeln beobachtete mich Lourenca, aber nach einer Weile merkte ich, dass sie nicht mehr zuhörte. »Ja, Livia – meine beste Freundin, die kennst du noch, oder? –, ihr gefällt es auch sehr gut in ihrer Lehre«, meinte sie. »Sie ist bei einer Meisterin und muss da richtig schwer arbeiten, und stell dir vor, sie bekommt nur einen Tag Ausgang in der Woche. Wahrscheinlich protestiert sie jetzt bei der Gilde. Aber sonst macht sie das alles richtig gern, sie lernt, Luftkuppeln zu bauen so wie ich.«
»Da hat sie ja Glück«, sagte ich und schaute über den See hinaus, der so still dalag wie ein Spiegel. Weil die Luft nachts kühler wurde, hing ein leichter Schleier über der Oberfläche. Über uns glänzten die Sterne. Ich hatte eigentlich nicht viel Lust, über Udiko oder Livia zu sprechen. Ich wollte über sie reden. Sie und mich. Ich wollte sie berühren, sie küssen, genau dort wieder anfangen, wo wir vor der Ära Jarco aufgehört hatten ...
»Ich habe oft an dich gedacht, Tjeri«, sagte Lourenca plötzlich.
Das Wasser fühlte sich auf einmal noch wärmer an. Mir war schwindelig. Ich blickte sie an. »Was ist mit Jarco?«
»Ach, der. Wir sind nicht mehr zusammen. Das war nicht so toll, weißt du. Er hält sich für den größten Fisch im Teich, aber eigentlich ist er ganz schön langweilig.«
Mein Herz schlug noch schneller. Aber gleichzeitig wunderte ich mich. Meinten wir den gleichen Jungen? Wir waren viele Winter lang wie Brüder gewesen, ich kannte Jarco so gut wie mich selbst. Er war ein mieser Krabbenhintern, und ich würde ihm nie verzeihen, dass er mir mein Mädchen ausgespannt hatte – aber langweilig?
Doch eigentlich interessierte mich das gar nicht. »Wie geht es dir jetzt?«, fragte ich sie. »Was ist in deinem Leben sonst noch so passiert?«
Ich wusste, dass ich mein Versprechen brach, aber ich konnte nicht anders. Noch während sie erzählte, nahm ich ihr Gesicht und küsste sie. An diesen Kuss werde ich mich den Rest meines Lebens erinnern. Meine Sinne waren durch Udikos Ausbildung so geschärft, dass ich jede Pore ihrer Haut fühlte, ihren Herzschlag, ihren Duft. Ich weiß heute noch, wie ihr Mund schmeckte, wie warm ihre Haut unter meinen Händen war. Und jede ihrer Bewegungen sprach zu mir und sagte mir, was ich wissen wollte. Ja, da war noch etwas zwischen uns!
»Du hast dich verändert«, stellte sie schließlich erstaunt fest, und in ihren Augen spiegelten sich die Sterne über uns.
»Ja«, sagte ich und küsste sie nochmal. Wir lagen im warmen Flachwasser und hielten uns in den Armen. Die Sehnsucht danach, sie ganz und gar zurückzubekommen, brachte mich beinahe um.
»Ich reise mit meinen Eltern weiter in den Süden«, flüsterte Lourenca. »Komm doch mit ... Wir könnten ein paar Tage zusammen verbringen ... mindestens ...«
Die Chance, dass Udiko mir ein paar Tage frei geben würde, war in etwa so groß wie die eines Wasserflohs, in einem Fischschwarm zu überleben. »Das geht nicht«, sagte ich. »Er wird es nicht erlauben. Ich kriege so schon Ärger, weil ich mich mit dir getroffen habe ...«
Sie schwieg, und ich sah die Enttäuschung in ihren Augen. »Vielleicht war es ein Fehler, herzukommen«, meinte sie schließlich leise.
»Nein, war es nicht«, widersprach ich und küsste sie noch einmal.
Doch diesmal erwiderte sie den Kuss nicht. »Würdest du wieder in Colaris leben, könnten wir uns öfter sehen. Vielleicht jeden Tag.«
Ich atmete tief durch. Ja, es wäre wirklich wunderbar, sie wieder jeden Tag zu sehen. Wäre es wirklich so schlimm, nach Colaris zurückzukehren? Ich hatte viele Freunde dort, und es bestand keine Gefahr, meinem Vater zu begegnen – er lebte mittlerweile im Norden von Vanamee. Nur: Bei Udiko könnte ich dann natürlich nicht bleiben, ich müsste meine Lehre bei einem anderen Sucher fortsetzen. Der Gedanke gefiel mir nicht im Geringsten. »Ich überleg's mir«, sagte ich zögernd. »Wann reist ihr weiter?«
»Morgen Früh, wenn die Sonne eine Handhoch über dem Horizont steht.« Sie schilderte mir, wo ich sie finden könnte, dann verabschiedeten wir uns zärtlich, und ich machte mich auf den Rückweg zu Udikos Luftkuppel. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht aufpasste und mitten durch einen Schwarm von Kobrafischen schwamm. Das hätte übel ausgehen können, doch ich hatte Glück – keiner von ihnen stach mich. Verdutzt über meine Dreistigkeit glotzten sie mich an. Ich machte mich davon, so schnell ich konnte.
Lange quälte ich mich mit der Frage, was ich tun sollte. Doch schließlich traf ich eine Entscheidung. Ich würde zurückkehren, um meine Sachen zu holen – und dann würde ich mit Lourenca gehen. Wohin auch immer sie wollte.
In der Luftkuppel unter dem See war es sehr still. Ich nahm mir kaum die Zeit, meine Schwimmhaut trocknen zu lassen, sondern tappte direkt zu meinem Zimmer. Der Buntalgenteppich atmete gerade, er fühlte sich kühl unter meinen bloßen Füßen an. Schnell packte ich meine Besitztümer in meine Tasche. Das Messer mit dem weißen Griff, den ich mir aus einer Feenkoralle geschnitzt hatte, eine gravierte Essschale, die mir meine Mutter gemacht hatte, meine Winterschwimmhaut und die Trockensachen – eine lockere und eine förmliche Tracht.
Die silberne Statue des Tass beobachtete mich dabei. Udiko hatte mir erlaubt, sie in mein Zimmer zu stellen. Ich ließ meine Fingerspitzen darüber gleiten, und der Gedanke, dass es das letzte Mal sein würde, tat weh ...
»Du wirst also gehen«, sagte eine Stimme.
Der Große Udiko stand zwischen den Stoffbahnen, welche die Zimmer voneinander trennten. Er wirkte grimmig ernst.
»Ich kann nicht anders«, stieß ich hervor.
Irgendwie hatte ich erwartet, dass er mich wütend zur Rede stellen würde. Mich an mein Versprechen erinnern würde. Mich verfluchen würde, weil er schon so viel Arbeit in mich gesteckt hatte. Aber er tat nichts dergleichen. »Dann werde ich das akzeptieren«, sagte er stattdessen. »Komm, wir trinken zum Abschied einen Kanov. Bevor wir die Muschel zerbrechen.«
Die Muschel. Ja, das mussten wir noch tun. Aber der Gedanke daran war fast unerträglich.
Wir gingen in den Wohnraum und setzten uns mit gekreuzten Beinen auf den Teppich, die Muschel zwischen uns. Die beiden Leuchttierchen beobachteten uns. Eines von ihnen kratzte sich gelangweilt mit dem Hinterbein zwischen den Ohren.
Schweigend schenkte Udiko uns ein. Ich hielt das winzige Glas mit dem Kanov zwischen Zeige- und Mittelfinger, wie es Sitte war, und dachte über einen Trinkspruch nach. Aber mein Kopf war wie leergefegt – bis auf die Bilder von Lourenca, die sich darin eingenistet hatten.
»Habe ich dir eigentlich mal erzählt, warum ich Sucher geworden bin?«, fragte Udiko. Ich schüttelte den Kopf. Er wusste verdammt genau, dass er mir das nie erzählt hatte. Wieso tat er es jetzt?
»Ich war zwölf Winter alt, meine kleine Schwester Liri vier.« Udikos Stimme klang schwer und langsam. »Weil meine Eltern viel in ihren Algengärten unterwegs waren, musste ich oft auf sie aufpassen. Aber in diesem Sommer war ich zum ersten Mal verliebt. Bei einem Ausflug war ich einen Moment lang abgelenkt, habe nicht auf meine Schwester geachtet. Sie war weg. Erst zwei Tage später haben wir sie gefunden. Ertrunken.«
Erschüttert blickte ich ihn an. Ich habe selbst zwei Schwestern. Beide sind älter als ich,