Jemand packte mich am Arm. »He, du! Hast du nicht gehört, Junge – bring dich besser in Sicherheit!«
Ein wildes Chaos von Gefühlen erfüllte mich, während ich den Helfer anstarrte. Bilder rasten durch meinen Kopf. Eiskalter Regen, der über eine Insel peitscht, ein Junge, der zusammengekauert wartet, dass es vorübergeht ... Ein kleines Mädchen, das mit dem Gesicht nach unten im Wasser treibt ... Zwei Kinder, die aus einem Kanu ins Wasser kippen, verzweifelt um sich schlagen ...
Ich riss mich los und tauchte ab.
Als ich wieder heraufkam, war ich allein in den grauen Wellen. Alle anderen waren in ihre Luftkuppeln zurückgeschwommen.
Mein Atem ging in Stößen, und mein Herz hämmerte wie wild. Ich fragte mich, was mit mir los war. Allein hatte ich keine Chance, in diesem riesigen Gebiet die beiden Kinder zu finden. Und wenn in meiner Nähe ein Blitz ins Wasser einschlüge, wäre es aus mit mir. Aber ich schaffte es nicht, aufzugeben. Udiko hätte weitergesucht, dachte ich. Er hätte nicht abgebrochen. Nicht, wenn es um das Leben eines Kindes ging.
Als ich an meinen Meister dachte, erschrak ich. Mir wurde auf einen Schlag klar, dass ich einen großen Fehler begangen hatte. Ich hatte mich einfach den anderen Helfern angeschlossen, mich einteilen lassen, statt wie ein Sucher zu denken und zu handeln. Wenn diese Kinder jetzt noch starben, dann war es meine Schuld!
Sofort brach ich das Tauchen ab, es war sinnlos. Ich gab ein wenig Luft in meine Schwimmhaut, ließ mich kurz von den Wellen wiegen und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Dann erst begann ich nachzudenken und das anzuwenden, was Udiko mich gelehrt hatte. Lautlos bat ich Kinona um ihren Schutz, schloss die Augen und versuchte, mich in einen der Jungen hineinzuversetzen – ein Kind, das zur Luft-Gilde gehörte, das völlig anders dachte als ich; dem fester Boden Heimat war und Wasser fremd und unangenehm erschien, nicht umgekehrt wie mir.
Ich paddle entlang, aufgeregt, ein bisschen unruhig. Besorgt sehe ich, wie sich das Wetter verschlechtert. In der Ferne sehe ich einen Erwachsenen schwimmen. Schnell versuche ich, das Boot hinter eine Insel zu bringen, damit er uns nicht erwischt. Allmählich gefällt mir das Abenteuer nicht mehr. Die Wellen werden höher, und ich habe Angst, ins Wasser zu fallen. Wir legen an der Insel an. Aber inzwischen hat es angefangen zu regnen. Ich versuche, den Wind zu beruhigen, aber er ist zu stark für mich. Wir suchen einen Unterschlupf, steigen aus ... Das Kanu wird abgetrieben, wir schaffen nicht, es zurückzuholen ...
»Natürlich – sie haben sich einen Unterschlupf gesucht!« Ich schrie es fast hinaus. Sicher hatten die Helfer alle Inseln längst abgesucht, und Verstecke waren dort rar. Aber es gab ein paar Höhlen, die nicht jeder kannte und die ich durch Zufall beim Beobachten von Tieren entdeckt hatte. Ob die Helfer auch die überprüft hatten? Vielleicht nicht. Viel zu lange hatten wir einfach angenommen, dass die Kinder aus dem Kanu gefallen waren und irgendwo zwischen den hohen Wellen herumpaddelten!
Ich schwamm so schnell wie nie zuvor, raste von einer Höhle zur nächsten, schaute unter Felsvorsprünge und überprüfte verlassene Amphibiennester. In der dritten Höhle wurde ich fündig. Der Eingang, der fast zu klein war für einen Erwachsenen, lag normalerweise knapp über der Wasseroberfläche. Bei Sturm lief die Höhle bis oben hin voll, und schon jetzt konnte man nicht mehr raus, ohne Tauchen zu müssen. Als ich mich ins Innere zwängte – zum ersten Mal dankbar für meine schmale Statur –, glotzten mich zwei verschreckte, patschnasse Kinder an. Sie hatten sich ganz hinten in der Höhle zusammengekauert, um sich gegenseitig zu wärmen.
»Da seid ihr ja«, sagte ich und schickte einen kurzen Dank an den Geist der Seen. »Alles in Ordnung?«
»Wer bist du?«, fragte einer der Jungen mit klappernden Zähnen.
»Erzähle ich dir später«, sagte ich. »Hier könnt ihr nicht bleiben, das Wasser wird weiter steigen.«
Schnell hatte ich die beiden überredet, mitzukommen. Inzwischen heulte der Wind draußen wie tausend verzweifelte Seelen, der Sturm war in vollem Gange. Wir mussten runter zum Grund des Sees. Ich weiß nicht mehr, wie ich es schaffte, die beiden in die nächstbeste Luftkuppel zu verfrachten. Aber ich kann mich noch daran erinnern, wie verblüfft mich die acht Helfer darin anblickten, als ich mit den triefenden Kindern an der Hand hereinkam. Wenige Atemzüge später wurden sie von den Frauen in trockene Sachen gesteckt und verhätschelt, ein Salamander trug die Nachricht von ihrer Rettung zu ihren Eltern.
Jemand gab mir einen heißen Becher Cayoral. Erschöpft setzte ich mich auf den Boden und trank. Ich fühlte mich schrecklich müde und aufgedreht zugleich. Ständig kamen irgendwelche Leute, die mir gratulieren oder auf den Rücken klopfen wollten. Mindestens zehnmal musste ich erzählen, wie und wo ich die Kinder gefunden hatte. Schließlich fragte jemand: »He, Junge, wer bist du eigentlich – wie heißt du?«
»Tjeri ke Vanamee«, erklärte ich. »Der Lehrling des Großen Udiko.«
Die Geschichte sprach sich schnell herum. Als ich am nächsten Tag zurückschwamm, grüßten mich Leute, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Die Leute von Yanai sind dafür bekannt, dass sie ein langes Gedächtnis haben. Als ich viele Winter später wieder in die Gegend kam, wurde ich empfangen wie ein Mitglied des Hohen Rates.
Udiko kehrte wenige Tage nach dem Zwischenfall zurück, hörte sofort von der Sache und war eine Weile netter zu mir als je zuvor. Ich verriet ihm nie, wie lange ich gebraucht hatte, um das anzuwenden, was er mich gelehrt hatte. Und dass ich um ein Haar alles verpatzt hätte.
* * *
Widerstrebend beschloss Mi'raela, des Mädchens wegen die unterirdischen Teiche zu meiden. Das bedeutete, dass sie bei ihren Jagdausflügen lange, lästige Umwege in Kauf nehmen musste. Aber im Grunde hatte Cchrnoyo Recht: Es schien sicherer, sich von der Menschenwelpin fern zu halten. Na, vielleicht würde es Zz'eldan gelingen, sie zu vertreiben – die meisten Menschen hatten Angst vor Natternmenschen, auch wenn sie sicher sein konnten, in der Burg nicht von ihnen verletzt zu werden. Dafür sorgte die Macht der Quelle.
Doch in den folgenden Tagen kam Mi'raela nicht dazu, jagen zu gehen. Als Berater der Regentin war Spinnenfinger höchst beschäftigt, wenn Gesandte kamen. Er war pausenlos in der Burg unterwegs und bis spät in die Nacht wach, um sich mit seinen Leuten zu besprechen und Pläne zu schmieden. Mi'raela musste Getränke, Speisen und Schriftrollen holen und bringen, bis ihr die Pfotenhände schmerzten.
Manchmal war bei den Besprechungen auch die Tochter von Steinherz dabei. Die Halbmenschen nannten sie Schrillstimme, weil es in den Ohren schmerzte, wenn sie sprach. Zum Glück sagte sie meistens wenig, und dann nur »Ja, Vater«, »Mache ich« oder höchstens ein respektvolles »Meinst du wirklich?«.
»Du wirst einen Platz zwischen den Feuer-Leuten einnehmen, Hetta«, befahl Spinnenfinger dem Mädchen gerade. »Achte genau darauf, was gesagt wird, und finde heraus, ob die Gesandten tatsächlich wegen des Handelspakts hier sind, oder ob sie versuchen wollen, der Alten eine Nachfolgerin aus ihrer Gilde schmackhaft zu machen.«
»Ja, mache ich.« Schrillstimme. Unverkennbar, selbst durch die dicken Mauern.
»Meinst du wirklich, Cyprio?«, hörte Mi'raela Steinherz skeptisch sagen. »Die Alte mag die Brandstifter nicht. Und als zukünftige Regentinnen taugen ihre Weiber nicht. Viel zu stolz, viel zu treu ihrer Gilde gegenüber. Falls uns eine Gefahr droht, dann aus der Erd-Gilde.«
»Vermute ich auch, aber besser, wir sorgen vor.«
»Wo ist eigentlich der nichtsnutzige Sohn der Alten abgeblieben?«
»Im Seenland. Keine Sorge, wir behalten ihn im Auge. Dort kann er keinen Schaden anrichten, und falls die Vettel plötzlich stirbt, können wir ihn schnell zurückholen, damit er die Übergangsregentschaft übernimmt.«
»Vielleicht wäre es sogar das Beste... Er würde Hetta sofort zur Regentin ernennen, damit er nicht zu lange auf dem Thron sitzen muss.«
»Nein.« Spinnenfingers Stimme