Das Elbmonster. Gerner, Károly. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerner, Károly
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847643777
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wären nicht gut für mich.“ „Bedauere, andere habe ich jetzt leider nicht“, war sein schlichtes Echo. Er sah mir prüfend ins Gesicht, zeigte mit der linken Hand auf den Konferenztisch und schwieg, was ich als Aufforderung zum Ablegen der Bücher und zum Gehen deutete. Ergo befolgte ich sein stilles Geheiß, ohne auf den Verbleib des vierten Bandes zu verweisen, und verabschiedete mich mit den Worten: „Danke und auf Wiedersehen, Herr Büttner!“, worauf er seinen Standardgruß „Freundschaft!“ erwiderte. Anschließend eilte ich spürbar doppelt erleichtert zum Russisch-Unterricht.

      Erst Jahre später, nachdem mein einstiger Schulleiter bereits oberster Chef der Kreispionierorganisation von Meißen war und sich mit kritischem Blick auf meine Person anscheinend ziemlich sicher glaubte, dass er mir etwas Außergewöhnliches anvertrauen könne, sagte er mit sichtlichem Stolz:

      „Ich habe mir während jener Minuten, als du mir die Bücher zurückbrachtest, fest geschworen, dich fortan gezielt unter meine Fittiche zu nehmen. Und wie ich nunmehr einschätze, ist es mir auch gelungen, dich in eine progressive Bahn zu lenken. Oder irre ich mich etwa?“ Nein, Erich, ich schulde dir fraglos in vielerlei Hinsicht aufrichtigen Dank“, war meine ehrliche Antwort (er hatte mir zuvor das vertraute Du angeboten).

      Rückschauend muss ich dem Manne wirklich anerkennend zugestehen, dass er zeitlebens von der Idee eines humanen Sozialismus felsenfest überzeugt war und sich auch buchstäblich bis zu seinem letzten Atemzug dafür abmühte. So dürfte es kaum jemanden befremden, dass die meisten seelischen Wunden, welche ihm zugefügt worden sind, nicht vom angeblich überall lauernden „Klassenfeind“ stammten, sondern von seinen engstirnigen „Kampfgefährten“.

      Zu dieser Sache gleich eine scheinbar nichtige, jedoch bezeichnende Episode:

      Nachdem ich mein fünfjähriges Direktstudium zum Lehrer für Deutsch und Geschichte am Pädagogischen Institut in Dresden erfolgreich abgeschlossen hatte, erhielt ich meine erste Anstellung an einer Polytechnischen Oberschule unweit von Meißen.

      Schon bald darauf empfand ich auch während meiner außerunterrichtlichen Tätigkeit große Freude, indem ich mit interessierten Mädchen und Jungen meiner Klasse über viele Wochen hinweg das wundervolle Kunstmärchen „Kalif Storch“ von Wilhelm Hauff einstudierte. Dies passte dem dortigen Parteisekretär ganz und gar nicht. Ihm missfiel das „klassenneutrale Stück“, wie er besonders mir gegenüber mehrfach betonte. Erich Büttner hingegen sorgte dafür, dass es anlässlich eines offiziellen Pioniergeburtstages (13. Dezember 1966) sogar im hiesigen Stadttheater Prämiere hatte. Dort waren nicht nur die Eltern der jungen Akteure hellauf begeistert.

      Mein ehemaliges Idol in politischer Hinsicht war jedenfalls kein Sprücheklopfer und erst recht kein Drückeberger. Obwohl er gelegentlich selbst bittere Niederlagen einstecken musste, wäre ihm gewiss niemals in den Sinn gekommen, seinem Leitbild von einer gerechten Gesellschaft abzuschwören. Man hätte ihn garantiert auch zu keiner Zeit als skrupellosen Wendehals erlebt. Aber er ist ja schon lange tot, der geradlinige, fast legendäre Haudegen Erich Büttner. Nur meine Erinnerung an ihn lebt noch.

      Ergo will ich freiheraus bekennen, dass seine beinahe leuchtenden Worte von einst, stets gepaart mit der festen Absicht, sie in Taten umzusetzen, nicht nur Abel und mich regelrecht fasziniert haben. Die meisten Schüler waren von ihm überaus angetan, speziell dank seiner außerunterrichtlichen Maßnahmen. Das erstreckte sich von regelmäßigen FDJ-Nachmittagen (Organisation „Freie Deutsche Jugend“ in der DDR) mit politischen Schulungen, jedoch auch körperlichen Aktivitäten (Sport und Spiele sowie Wanderungen), bis hin zu einem für uns ungemein bewegenden Höhepunkt, als wir unter seiner Regie im August 1951 zu den Weltfestspielen der Jugend und Studenten mit nach Berlin fahren durften.

      Besonders eindringlich und ebenso anhaltend wirkten seine theoretischen Unterweisungen während unserer nachmittäglichen Zusammenkünfte in einer Gruppe von interessierten Schülern. Er sprach mit leidenschaftlicher Hingabe über Völkerverständigung, Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle und der gleichen mehr, darunter extra gedankenreich über die geschichtliche Rolle der Arbeiterklasse sowie deren theoretische Begründung durch Karl Marx und Friedrich Engels. Und das, obwohl oder vielleicht gerade, weil erst fünf Jahre nach dem Ende des schrecklichsten Krieges aller Zeiten vergangen waren, dessen grausame Wunden sich noch überall täglich offenbarten. Nie wieder sollte ein derart barbarisches Gemetzel durch profitgierige Monopolverbände und deren willfährigen Lakaien ausgelöst werden.

      Welcher junge Mensch von dreizehn oder vierzehn Jahren hätte sich davon nicht entflammen lassen, gar, wenn er persönlich schon viel Schlimmes durchmachte? Abel und ich waren jedenfalls beseelt vom Glauben an der realen Chance, eine neue und bessere Welt aufzubauen und dabei selbst aktiv mitzuwirken. Konkrete Vorstellungen hatten wir allerdings nicht. Aber die Idee verlieh uns Flügel.

      Mit der christlichen Lehre, deren Grundzüge uns bis dahin halbwegs vertraut waren und die uns auch eine überwiegend verlässliche Orientierung gaben, hatte die neue Art jungfräulichen Denkens indessen nicht viel gemein (sofern wir von der urwüchsigen Sehnsucht der Menschen nach allgemeinem Wohlbefinden einmal absehen).

      Deshalb verspüre ich mich jetzt dringend veranlasst, nochmals ausdrücklich zu betonen, dass es mir absolut fernliegt, religiöse Gefühle und Bekenntnisse von Gläubigen zu verletzten. Damit würde ich ja meinen eigenen Erzeugern posthum sehr wehtun. Schließlich haben sie mir das Höchste geschenkt, was ich besitze, nämlich mein Leben, dazu Liebe und Geborgenheit, jedoch auch eine gute Portion kritischer Toleranz: „Junge, habe stets Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! Du kannst irren. Aber hülle dich nicht in Schweigen, wenn du es für nötig hältst, dich über bestimmte Sachverhalte zu äußern!“, war mehrfach ihre gütige Empfehlung.

      Sonach will ich den verehrten Lesern ohne Vorbehalt anvertrauen, dass meine Eltern ausnehmend glücklich gewesen wären, hätte sich ihr mittlerer Sohnemann für ein Studium der Theologie entschieden. Dies gilt natürlich erst recht für Abel. Sie dachten bereits gezielt an eine sechsjährige Ausbildung am Katholischen Priesterseminar in Erfurt. Vorher hätten wir freilich ein Gymnasium oder die Volkshochschule besuchen müssen, um das dafür erforderliche Abitur zu erwerben. Doch es kam anders. Wir fühlten uns einfach nicht dazu berufen, schon wegen des orthodoxen Gelübdes zur ehelichen Keuschheit nicht, das bei katholischen Würdenträgern von ihrer stockkonservativen Oberhoheit immer noch vorausgesetzt wird. Also beschritten wir einen völlig anderen, weltanschaulich teils sogar entgegengesetzten Pfad. Schließlich haben wir uns der Sache über Jahrzehnte hinweg beinahe mit Haut und Haaren verschrieben, wenngleich stets nur in unteren Rängen mitwirkend. Höhere Stufen einer angepassten Karriere blieben uns versagt. Glücklicherweise? Mag sein. So ist das manchmal im Leben: Was dich heute befremdet oder gar verdrießlich stimmt, kann dir bisweilen schon morgen zum Vorteil gereichen.

      Das wiederum hatte spezielle Ursachen. Der maßgebliche Grund dafür könnte gewesen sein, dass unser ältester Bruder kurz vor Kriegsende in amerikanische Gefangenschaft geriet und sich nach seiner Entlassung für immer in Westdeutschland sesshaft machte, weil er dort sofort eine passende Anstellung erhielt, sich obendrein bald von einer liebeshungrigen Maid bezirzen ließ und mit ihr eine Familie gründete. Möglicherweise ward sie zuerst von ihm heiß umworben? Okay! Er war jedenfalls zwei Jahre früher in Germanien als wir. Den Rest können wir uns sicherlich denken, wenn nicht, bitte Radio Jerewan fragen (zu DDR-Zeiten eine spezielle Kategorie politischer Witze)!

      Beigebend sei mir noch erlaubt, mit erquicklichem Behagen zu verkünden, dass wir uns wenigstens vom berüchtigten Tarnkappenverein „Horch und guck!“ (Staatssicherheitsdienst) nicht für seine erbärmlichen Obliegenheiten einfangen ließen. Ansonsten hätten wir uns vielleicht schon des Öfteren irgendwo verkrochen, gegebenenfalls sogar in einem Erdloch, vermutlich weniger aus Angst, wie beispielshalber Saddam Hussein, sondern infolge unbändiger Scham und Reue. Davon blieben wir gottlob verschont.

      Indessen ist nicht zu leugnen, dass vereinzelt auch sehr achtbare Leute unversehens in das ominöse Räderwerk des heimtückischen Spitzeldienstes hineingeraten sind. Ehe sie sich versahen, waren sie bedauernswürdige Denunzianten.

      Wir sollten Nachsicht üben und ihnen verzeihen! Ohnedies wird nur derjenige anderen niemals vergeben können, der sich selbst rundherum fehlerfrei wähnt.