Das merkwürdige Zwischenspiel machte natürlich rasant die Schulrunde, worauf ich noch manch freches Gespött erdulden musste. Aber echt schmerzhaft empfand ich die einschlägigen Lästerungen gottlob niemals. Meinen Vornamen durfte ich übrigens originalgetreu behalten, nachdem eine zuständige Behörde die Geburtsurkunde sichtete und sich dafür entschied (Aussprache: Karoj für Károly und Kartschi für den Kosenamen Karcsi).
Des Weiteren hatten Abel und ich am selben Ort ein geradezu einschneidendes Erlebnis, das ich nachstehend meinen verehrten Lesern deshalb übermittle, weil ich schon seit Langem vermute, es könnte während der Übergangsphase vom Kind zum Jugendlichen der maßgebliche Auslöser für unsere weitere Laufbahn in weltanschaulicher Hinsicht gewesen sein. Hundertprozentig sicher bin ich mir darin allerdings bis zum heutigen Tage nicht. Und es wird wohl auch fernerhin beim ungeklärten Fragezeichen bleiben.
Hier die markante Begebenheit, welche sich wie folgt ereignete:
Gegen Ende Juni 1950 fand an der erwähnten Lehrstätte, wo wir nach unserer gewaltsamen Vertreibung aus Ungarn die ersten deutschsprachigen Unterweisungen erhielten, das traditionelle Schulsportfest statt.
Herrlicher Sonnenschein kündete allenthalben von einer himmlischen Wohltat, wie ich mich noch bestens erinnere. Schon der Morgen putzte sich festlich heraus, denn die Vögel sangen bereits im Frühtau nahezu konzertant ihre überaus faszinierenden und daher beflügelnden Lieder. Obendrein lockten und verführten unzählige Pflanzen mit ihren bezaubernden Düften mancherlei Lebewesen wiederholt zum überwältigenden Sinnesrausch, darunter gewiss auch gotterkorene Denkgeschöpfe. Wir Kinder jauchzten und frohlockten auf dem Wege zum Platz der bevorstehenden fairen Kämpfe, als gehörte uns die ganze Welt. Ich war wirklich voller Optimismus, zumal mich eigene körperliche Herausforderungen seit eh und je begeistern konnten. Was sollte denn an einem derart wunderschönen Tage schieflaufen?
Ich zählte gut dreizehneinhalb Lenze. Vielleicht war mir bis anhin eine gewisse Portion kerniges Naturtalent eigen. Jedenfalls siegte ich prompt in drei Disziplinen (Weitsprung, 100-Meter-Lauf und Schlagballweitwurf). Bereits kurze Zeit später wurde ich während eines feierlichen Fahnenappells zum „Schulmeister“ gekürt. Als Prämie erhielt ich gleich vier Bücher hintereinander, für jede gewonnene Sportart eines sowie ein besonders starkes Exemplar mit der Auszeichnung als „Gesamtsieger“. Selbstredend nahm ich den großen Schatz, wie ich glaubte, voller Stolz entgegen.
Abel, mit dem ich mich ja in derselben Klassenstufe befand, war übrigens auf sportlichem Gebiet selten so gut drauf wie ich, dafür mir aber geistig fortwährend überlegen.
Und nun vernehmen wir bald das eigentliche Drama.
Überhaupt nichts Schlimmes ahnend, machte ich mich gemeinsam mit meinen schulpflichtigen Geschwistern erhobenen Hauptes spornstreichs auf den Heimweg, um die lieben Eltern mit einer vermeintlich guten Botschaft zu erfreuen. Es war am frühen Nachmittag. Während sich unser Vater noch auf Arbeit befand, reichte uns die herzensgute Mutter das bereits fertige Essen, und wir genossen den kärglichen Schmaus. Gleich darauf präsentierte ich ihr im Beisein Abels strahlend meine jüngste Errungenschaft. Sie nahm jedes Buch einzeln und sehr behutsam in ihre Hände, prüfte gründlich deren Titel, blätterte ein wenig darin und überflog zugleich kleine Textpassagen (inzwischen konnte sie gut lesen!), bis sie schließlich mit unübersehbaren Sorgenfalten jedes Exemplar sachte übereinandergestapelt auf den Küchentisch legte. Gleich darauf nahm sie mich in ihre vertrauten Arme und hielt mich auch ziemlich lange fest, als wollte sie mich für immer vor einer unwägbaren Gefahr beschützen. Nach längerem Warten sagte sie mit auffallend leiser und bedrückter Stimme:
„Karcsi, ich fürchte, der Vater kann sich darüber nicht freuen.“ Dieser schicksalsschwere Satz hat sich unauslöschlich in meinem Bewusstsein eingebrannt. Ich vermag ihn nicht zu tilgen, denn genau so kam es dann auch. Nein, noch viel leidvoller!
Zu einer näheren Begründung ihrer seltsamen Bedenken konnte ich die gramerfüllte Mutter nicht überreden. Offenbar fand sie nicht die nötigen Argumente dafür, und so vertröstete sie mich besonders gütig auf Vaters Ankunft.
Nachdem unser stets fürsorglicher Hauptverdiener von seinem fraglos harten Lohnerwerb zur fortgeschrittenen Stunde sichtlich abgespannt heimkehrte, erfrischte er sich ein wenig, um hernach mit uns gemeinsam zu speisen. Anschließend verflüchtigten sich meine Geschwister hurtig. Ich hingegen verweilte noch in der Küche, denn ich war verständlicherweise bis aufs Äußerste auf seine Reaktion gespannt. Auch Abel blieb, um selbst zu vernehmen, was denn an der Sache eventuell anrüchig oder gar unheildrohend wäre.
Es dauerte nicht lange, bis Mutter sich entschloss, unser Oberhaupt auf meine sportlichen Leistungen zu verweisen.
„Na, großartig! Mein Glückwunsch, Karcsi!“, war seine erste Entgegnung. Dann reichte sie ihm vorsichtig ein Exemplar von den vier Büchern. Es war das Schmalste von allen.
Schon ein kritischer Blick auf den Titel genügte ihm, um plötzlich wutentbrannt aufzustehen, es in mehrere Stücke zu reißen und diese in die Feuerstelle des Herdes zu werfen, wo noch lodernde Glut herrschte. Gleich darauf meinte der Vater schroff und laut: „Solche Teufelswerke dulde ich nicht in meiner Familie!“
Auch die anderen drei Bücher nahm er kurz in Augenschein, zerriss und verbrannte sie jedoch nicht, sondern befahl mir unmissverständlich: „Du nimmst diese Schwarten morgen wieder mit, gibst sie dem Schulleiter persönlich und sagst ihm, wir wollen mit solchem Dreckszeug nichts zu tun haben!“ Dann fügte er belehrend und spürbar wehmütig hinzu: „Du sollst wissen, Karcsi, und auch du, Abel: Es waren die Kommunisten, die uns wie streunende Hunde aus unserer angestammten Heimat verjagt haben. Vergesst das niemals!“
Mir schien, er konnte sich seiner bitteren Tränen nicht mehr erwehren, denn er verließ schlagartig den Raum. Die psychischen Wunden, welche ihm reichlich zwei Jahre zuvor durch die brutale Ausweisung zugefügt worden sind, waren offenbar noch zu frisch, als dass er mir gegenüber hätte vielleicht etwas feinfühliger reagieren können.
Hierzu sofort eine passende Ergänzung:
Im September 2010 gab es bei uns in Meißen wieder ein Treffen von Ungarndeutschen aus Mágocs. Einige kannten meinen Vater von früher (er wählte 1969 den Freitod).
Und wie es das Schicksal wollte, erfuhr ich von einem sichtbar hochbetagten Herrn erstmals den wahrscheinlich maßgeblichen Grund für unsere brutale Aussiedlung.
Er könne sich noch sehr gut daran erinnern, sagte der als direkter Zeuge eines fatalen Vorfalls durchaus glaubwürdige Senior, wie meinem Vater während einer heftigen Auseinandersetzung mit zwei Beamten der neuen Macht plötzlich die Sicherung durchbrannte und er den Männern ins Gesicht schrie: „So wie ihr Kommunisten aufgetaucht seid, so werdet ihr eines Tages auch wieder verschwinden! Darauf könnt ihr euch verlassen!“
Endlich ist mir einiges verständlich! Wie sonst wäre auch zu erklären, dass wir, obzwar bettelarm, gnadenlos vertrieben worden sind, alle unsere Verwandten hingegen bleiben durften, die wiederum teils etwas begütert waren?
Um das Bild einigermaßen abzurunden, will ich meine geschätzte Leserschaft auch davon in Kenntnis setzen, dass politische Themen innerhalb unserer elterlichen Familie weitgehend tabu waren, erst recht hier in Deutschland, allenfalls ursächlich den seelischen Zerwürfnissen meines Vaters geschuldet. Insbesondere daraus resultierte wohl auch meine grenzenlose Fassungslosigkeit und Enttäuschung nach der bezeichnenden Szene vom Juni 1950. Dessen ungeachtet sei aus tiefstem Herzen betont, dass ich ihm seinen spontanen Zornesausbruch niemals wirklich übel nehmen konnte, zumal er sich bald darauf bei mir reumütig entschuldigte. Aber der markante Vorfall selbst bewirkte eine bis dato unerwartete Richtungsänderung in meinem Leben.
Wie ging es danach weiter?
Selbstverständlich habe ich am nächsten Tag Vaters Anweisung strikt befolgt. Ich nahm die drei verbliebenen Bücher und brachte sie schon frühmorgens unserem Schulleiter. Seine jederzeit freundliche Sekretärin ließ mich auch anstandslos zu ihm gehen. Meine Aufregung war indessen nicht zu verbergen. Und bevor ich ihn überhaupt zu grüßen vermochte, empfing er mich, an seinem Schreibtisch sitzend, mit den ehrenden Worten: „Ach, unsere