Erben der Macht. Christine Stark. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Stark
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742777645
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ist. Irgendwas fehlt“, fuhr er unbeirrt fort.

      „Rocco…“

      „Vielleicht doch mehr Farbe?“

      „Rocco…“

      „Was meinst du? Die Konturen schärfer? Ich bin mir nicht sicher…“

      „Du musst es übermalen.“

      „Übermalen? Wirklich? Aber welchen Teil? Und warum?“

      „Vollständig Rocco.“

      „Vollständig? Findest du es nicht gut?“

      „Ich finde es großartig.“

      „Aber wieso…? Ich verstehe nicht…“

      „Rocco. Du verstehst sehr gut.“

      „Du hast doch gerade gesagt, es ist großartig.“

      „Rocco, hör mir zu.“

      „Wieso sagst du dann so etwas?“

      „Hör mir zu.“

      „Ich kapiere das nicht.“

      „Hör mir zu!“, brüllte Maya ihn an. Rocco schwieg erschrocken. Maya holte tief Luft.

      „Rocco, du kannst nicht so ein Bild malen ohne dir im Klaren darüber zu sein, dass du es zerstören musst.“

      Der Junge trat einen Schritt zurück und starrte sie fassungslos an.

      „Zerstören?“

      „Was willst du denn sonst tun? Es aufhängen?“ Maya schnaubte.

      „Aber wenn es gut ist…“

      „Rocco, du willst mich nicht verstehen. Ich habe mir ein wenig mehr von einem Jungen erwartet, dessen Eltern seit 4 Wochen wegen Aufwiegelung der Bevölkerung im Gefängnis sitzen.“

      „Halt den Mund.“ Roccos Augen funkelten böse, aber Maya konnte jetzt nicht still sein. Es war ihr egal, ob sie gerade klang wie ein Oberlehrer. Das hier war auch für sie wichtig.

      „Nein, das werde ich nicht. Rocco weißt du denn nicht, wie gefährlich ein solches Bild ist? Weißt du denn nicht, was passiert, wenn irgendjemand dieses Bild sieht und dich bei den Mocovics hinhängt? Das ist genau so Aufwiegelung. Sie werden dich einsperren!“ Maya war wieder laut geworden.

      Roccos Stimme dagegen war nur ein Zischen.

      „Natürlich weiß ich, was passieren kann. Aber das glaube ich nicht. Nicht hier in diesem Viertel. Mocovics Männer sind hier nicht unterwegs. Sie überlassen uns doch seit Monaten uns selbst.“

      „Sie sind überall“, entgegnete Maya fest.

      „Und wenn schon. So eindeutig ist dieses Bild nicht. Ich wette, Mocovic würde sich sogar ziemlich gut getroffen fühlen und geschmeichelt sein.“ Er deutete auf das hämische Grinsen, das er Victor ins Gesicht gesetzt hatte. „So sieht er sich doch selbst.“

      „Du bist völlig übergeschnappt. Rocco, ich erlaube nicht…“

      „Moment, du erlaubst nicht? Seit wann kannst du mir etwas verbieten?“

      „Seit du auch mich mit so einem Scheiß in Gefahr bringst!“ Maya kochte. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten.

      „Ich hätte nicht gedacht, dass du so feig bist.“ Enttäuschung und Vorwurf schwangen in seiner Stimme mit.

      Getroffen zuckte Maya zurück. Rocco setzte nach.

      „Du betrachtest dich selbst als Widerständler. Das tust du doch, oder? Du hasst ihn – diesen Patron und sein skrupelloses Gefolge. Wer hasst die nicht. Und du möchtest, dass sie verschwinden. Aber sie verschwinden nicht. Auch nicht, wenn man es sich noch so wünscht. Und mehr als fromme Wünsche hast du nicht.“

      Wie von einer großen Woge wurde Maya von ihrer Vergangenheit überschwemmt. Ihr Vater, ihr Bruder, ihre Schwester. Wahnsinn, Tod, Verlust. Die ständige Wachsamkeit, die an ihren Nerven zerrte, das Misstrauen und der Mangel an echten Beziehungen. Rocco kannte ihre Geschichte nicht und auch nicht ihren echten Namen, aber er musste es doch wissen. Er musste doch wissen, wie es ihr ging. In diesem Viertel der Stadt fand man vielleicht eine Handvoll Menschen, die nicht ein ähnliches Schicksal teilten. Sie hatten alle verloren. Auch Rocco. Er musste es doch wissen!

      „Und du?“, sagte sie. Sie musste sich räuspern. „Du hast ein Bild.“

      „Ja und es ist nur ein Bild. Ich wünschte, ich könnte mehr tun, als malen.“

      „Bist du lebensmüde?“

      „Das hat doch damit nichts zu tun!“

      „Nein?“ Maya fand langsam ihre Stimme wieder. „Glaubst du denn, du könntest irgendetwas in Oziljak zum Guten verändern, indem du leichtsinnig und unüberlegt provozierst? Das ist kein Widerstand, das ist dumm!“

      „Lieber dumm sein, als immer nur ängstlich den Kopf einziehen.“

      Maya schloss die Augen und zwang sich zur Ruhe. Rocco war ein Junge. Ein ziemlich wütender, uneinsichtiger Junge. Im Moment erreichte sie gar nichts. Seine trotzige Mauer war nicht zu durchbrechen. Aber dieses Bild blieb eine Gefahr.

      „Meinetwegen, mach was du willst. Wenn du bereit bist, die Konsequenzen zu tragen.“

      „Ich…“, setzte Rocco an.

      „Aber es sind deine Konsequenzen. Zieh mich da nicht mit rein. Ich möchte, dass dieses Bild aus meinem Atelier verschwindet. Hast du mich verstanden?“

      „Nur weil du Angst…“

      „Hast du mich verstanden?“

      Schweigen.

      „Rocco!“

      „Ja.“

      Der Moment, in dem ein guter Song einen trifft und einen ausfüllt, bis die Haut prickelt, gehörte zu besten, die Scar sich vorstellen konnte. Sein Rückenmark sandte heiße Schauer durch seine Glieder und sein Trommelfell knackte vom monströsen Sound der Gitarre. Reglos stand Scar im VIP-Bereich des Clubs. Seine Augen waren auf die Tanzfläche unter ihm gerichtet, aber er sah nicht hin. Er war ganz auf diese Musik konzentriert, die ihren galoppierenden Bass und die dumpfen Drums direkt durch seinen Magen schickte. Dieser Song war nur für ihn. Scar hatte schon immer die Fähigkeit gehabt, sich in Musik zu verlieren. Lange hatte er geglaubt, das ginge jedem so. Doch mit der Zeit war im klar geworden, dass es Menschen gab, die Musik allgemein keine große Bedeutung zumaßen. Ganz und gar unmusikalische Menschen hielt Scar für groteske, erschreckende Launen der Natur. Musik war so selbstverständlich für ihn, zog sich durch seinen Tag und machte ihn glücklich in Momenten wie diesen.

      Dabei verschwendete er keinen Gedanken auf die Frage, warum ihm gerade diese oder jene Art von Musik gut gefiel. Ein guter Song war ein guter Song. Die Entscheidung war unbewusst und meist unwiderruflich.

      Scar fühlte den Rhythmus an seinen Fingerspitzen, als könnte er ihn greifen. Hätte er seine harte Schale nur einen winzigen Moment ablegen können, er hätte sofort angefangen wild Luftgitarre zu spielen. Dabei hätte er seine nicht vorhandenen Haare durch die Luft geschleudert und laut über sich selbst gelacht. Doch die Schale blieb verschlossen. Und es ging verdammt nochmal keinen was an, wie es darunter aussah.

      Am Rande seines Blickfelds glitzerte etwas. Ein Mädchen hatte sich neben ihn gestellt und erwartete, dass er sie bemerkte. Sie warf ihre blonden Haare zurück und die Spitzen streiften weich seinen Oberarm kurz unterhalb der Stelle, an dem sein T-Shirt endete. Scar seufzte. Der Song war vorbei.

      „Was willst du?“, fragte er die Schönheit an seiner Seite barsch. Als Scar sie erkannte, hätte er sich die Frage auch selbst beantworten können. Diese Frau war eine Prostituierte. Sie hieß Tanja und gehörte genau wie die viel zu jungen, viel zu dünnen, viel zu betrunkenen Sternchen in den VIP-Bereich dieses Clubs. Sie war wirklich gutaussehend.