Erben der Macht. Christine Stark. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Stark
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742777645
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haben, zu dem sie noch konnte. Der Einzige, der noch übrig geblieben war. Also war sie ausgerissen. Doch in der unbekannten Gegend hatte sie sich schnell verlaufen. Als Maya auf der Straße über sie gestolpert war, hatten sie Lisas große, verweinte Augen so verzweifelt angeblickt, dass Maya den Impuls zu helfen einfach nachgegeben hatte. Sie hatte den Vorsatz, nie wieder nach Oziljak zu gehen, ohne weiter nachzudenken gebrochen und war mit Lisa auf die Suche nach Rocco gegangen. Es war nicht ganz leicht gewesen, denn Roccos Eltern waren aus ihrer alten Wohnung vertrieben worden. Die Mieten waren rasant gestiegen und sie hatten sich die vier Zimmer einfach nicht mehr leisten können.

      Um sie zu finden hatten Maya und Lisa herumfragen müssen. Möglichst unauffällig, denn keine der beiden hatte riskieren können, ins Visier der Behörden zu gelangen. Es hatte Tage gedauert, bis sie Roccos Vater schließlich nach der Arbeit in der Fabrik abpassen konnten. Tage, in denen sie auf der Straße geschlafen hatten, versteckt vor der Polizei. Sie hatten sich aneinander gekuschelt um nicht zu frieren, und hatten sich Geschichten zugeflüstert, gegen die Angst.

      Doch als sie Roccos Vater Carlos gefunden hatten, hatte er Lisa sofort fest in den Arm genommen und sie in sein neues Zuhause gebracht. Eine winzige Wohnung mit nur einem Zimmer.

      Maya hatte sich nicht von Lisa trennen können. Sie hatte sie in Sicherheit wissen wollen und war Carlos und Lisa einfach hinterhergelaufen.

      Roccos Vater hatte nur gelächelt und Maya auf einen Tee eingeladen. Während Rocco und Lisa ihr Wiedersehen feierten, hatte Carlos Maya versichert, sich von nun an um Lisa zu kümmern. Selbstverständlich würde sie in der viel zu kleinen Wohnung nicht bleiben können, doch Carlos hatte Maya versprochen, er würde sichergehen, dass sie nicht noch einmal ins Heim musste. So war Lisa in die WG gekommen. Und Maya zurück nach Oziljak. Denn sie hatte zu Lisa eine Verbindung geknüpft, die sie nicht hatte lösen wollen. Viel zu lange, so war ihr deutlich geworden, hatte sie vermieden, zu anderen Beziehungen aufzubauen. Viel zu unsicher. Traue niemandem. Aber Lisa hatte ihr vertraut und Maya war es ihr schuldig, dieses Vertrauen zu erwidern. Das hatte ihr gut getan. So gut, dass sie beschlossen hatte, wieder in die Stadt zu ziehen. Maya hatte ihr restliches Geld zusammengekratzt und mit Hilfe ihres gefälschten Passes und einigen Schmiergeldern an der richtigen Stelle, in einem heruntergekommenen Viertel das Café und das angrenzende Atelier gemietet. Lieber in Gefahr leben, als ohne jegliche Bindung in vermeintlicher Sicherheit umher zu ziehen.

      „Du kannst natürlich erst einmal hierbleiben“, wandte Maya sich nun an Rocco. „Das ist doch klar.“

      Rocco sah Maya dankbar an. Dann stürzte Lisa so schnell auf Maya zu und umarmte sie so heftig, dass Maya beinahe die Luft wegblieb. Verlegen schob sie Lisa von sich.

      „Ich weiß gar nicht, warum euch das so überrascht.“

      Doch weder Rocco noch Lisa gaben ihr Antwort.

      Maya räusperte sich: „Naja, dann würde ich sagen, du holst erst einmal ein paar deiner Sachen aus der Wohnung. Bitte sei aber vorsichtig, ja?“

      Rocco nickte.

      „Lisa, es ist bald Zeit für die Schule, also ab nach Hause mit dir. Ich versuche in der Zwischenzeit herauszufinden, was mit Roccos Eltern passiert ist.“

      Lisa drückte sie noch einmal, ging dann wieder zu Rocco und nahm ihn bei der Hand. An der Tür drehte sich der hochgewachsene junge Mann noch einmal zu Maya um.

      „Bis später“, sagte er. Dann waren die beiden auch schon zu Tür hinaus.

      Scar hasste seine Aufgabe aus tiefstem Herzen. Er betrachtete seinen Bruder Victor eingehend, wie er sich in diesem überdimensionierten Ankleidezimmer die schwarze Lederjacke über die knochigen, breiten Schultern zog. Aber Scar wusste, dass es zwecklos war mit Victor darüber zu reden. Das ganze Wesen seines Bruders unterschied sich grundlegend von seinem. Seine Auffassung von Macht, Führung und Stärke teilte Scar in keinster Weise. Und doch war er Teil dieses Systems. Er machte mit und redete sich selbst ein, nur dann etwas zum Guten bewirken zu können, wenn er sich innerhalb dieses Machtgefüges befand. Aber was unternahm er schon groß? Sicher, er hatte manchmal die Möglichkeit, Victors sadistische Extreme zu verhindern. Aber darüber hinaus hatte er noch nicht viel erreicht. So verquer es auch klingen mochte, aber dazu fehlte das Vertrauen. Victor vertraute seinem Bruder nicht. Und das einzige, worauf Scar bei seinem Bruder vertrauen konnte, war, dass Victor all die schrecklichen Klischees eines brutalen, machthungrigen Patrons erfüllte. In vielen Belangen blieb Scar außen vor oder erfuhr nicht die ganze Wahrheit, das war ihm klar. Schließlich war er der Verräter. Das Leck. Der Abtrünnige, den man nur noch nicht umgebracht hatte, weil er zur Familie gehörte und den man nur innerhalb des engen Kreises um Victor duldete, weil sein Bruder glaubte, ihn so am besten kontrollieren zu können. So oft schon hatte Scar daran gedacht, diese Familie, diese Stadt und dieses Land hinter sich zu lassen. Aber was dann? Victor würde ihn nicht gehen lassen, würde sich nicht der Gefahr aussetzen, den Verräter aus den Augen zu verlieren. Darüber hinaus war sich ein nicht ganz unbedeutender Teil Scars durchaus bewusst, dass er nicht auf die finanziellen Annehmlichkeiten verzichten wollte, die er als Bruder des Patrons genoss. Dafür hasste er sich manchmal ausgiebig.

      „Spar dir diesen Gesichtsausdruck für Henly auf“, riss Victor ihn aus seinen Gedanken. Er schlüpfte gerade in ein paar schwere Stiefel und besah sich kurz im Spiegel. Victor war noch keine 30. Der kleine Bruder – auch was die Körpergröße anging. Er war einen ganzen Kopf kleiner als Scar, hatte pechschwarzes schulterlanges Haar und ein hübsches Gesicht. Ein hübsches Gesicht. Unbewusst fuhr Scars Hand zu seiner linken Wange, über die sich von der Schläfe bis zum Kinn eine ausgefranste Narbe zog, die ihm seinen nicht sehr originellen Spitznamen gab. Victor nannte ihn manchmal auch „mein Schöner“, was Scar dazu zwang den heftigen Impuls zu unterdrücken, seinem Bruder an die Kehle zu gehen.

      „Victor, ich glaube, dein Bruder hat nur diesen einen Gesichtsausdruck“, höhnte Carl Mocovic, ein Cousin und der engste Vertraute Victors. Carl war der Sohn von Scars verstorbenem Onkel und hatte von der Familie Mocovic lediglich die markanten Gesichtszüge geerbt. Doch weder Intelligenz, noch diese ausnehmende Attraktivität waren ihm geschenkt worden. Er hatte struppiges, braunes Haar, eine breite, mehrfach gebrochene Nase und einen schmalen Mund. Diesen allerdings bestückt mit viel zu vielen, viel zu weißen Zähnen, die Scar in Momenten wie diesen gerne eingeschlagen hätte.

      „Nein, es gibt den bösen Scar und den sehr bösen Scar. Und das ist gerade schon ziemlich nah am sehr bösen Scar“, gab sein Bruder zurück.

      „Könntet ihr zwei aufhören, über mich zu reden, als wäre ich gar nicht hier!“, brummte Scar. „Und wegen Henly: Ich glaube nicht, dass es was bringt, ihm zu drohen. Außerdem ist es Blödsinn, die Schraube noch enger zu ziehen. Er ist doch ohnehin schon am Limit.“

      Victors Lächeln, mit dem er sich im Spiegel bedachte, gefror. Er wandte sich zu seinem Bruder um.

      „Dieser kleine Idiot Henly behält einfach noch viel zu viel für sich und erzählt uns, seine Fabrik würde nicht genug abwerfen. Natürlich können wir die Schraube enger drehen. Das habe ich dir bereits erklärt – mehrfach. Aber du verstehst es einfach nicht, oder? Du verstehst nicht, dass deine Meinung nicht notwendig ist für mich. Was ich von dir brauche, ist dein Gesicht. Denn niemand kann anderen so viel Angst einflößen, wie du.“

      Scar schnaubte. „Du überlässt mir deine Bücher. Deine offiziellen Bücher. Ich weiß, dass wir das Geld nicht brauchen.“

      Plötzlich lächelte sein Bruder wieder. „Vielleicht brauchen wir es für etwas Inoffizielles. Und nun Schluss damit. Ich will, dass du mit Carl gehst. Carl redet und du, mein Schöner“- er trat ganz nah an Scar heran - „du siehst einfach nur grauenvoll aus.“

      2

      Fromme Wünsche, ein Bild und ein Schlagstock

      Vier Wochen später hatte Rocco sich schon bestens eingelebt. Maya genoss es, einen Mitbewohner zu haben. Vor allem, weil er die Zeit zwischen seiner Arbeit in der Fabrik, den Treffen mit Lisa und dem Nebenjob in Mayas Café mit Malerei verbrachte. Er hatte schon früher kleinere Skizzen angefertigt und ab und zu