Erben der Macht. Christine Stark. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Stark
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742777645
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dass er dabei vermehrt zu Farbe griff, lag vielleicht auch daran, dass Rocco in Mayas kleinen Lagerraum eingezogen war und die ausquartierten Farben seither ungeordnet überall im Atelier herumstanden. Rocco vermischte die Farben zu wilden, schreienden Bildern. Er legte seine ganze Wut in seine Pinselstriche und es war ihm scheinbar egal, was am Ende dabei herauskommen würde. Natürlich hatte es damit zu tun, dass seine Eltern in Haft waren. Offiziell befanden sich Carlos und seine Frau Anna in Untersuchungshaft. So viel hatte Maya herausgefunden. Doch aus Erfahrung wusste Maya, dass keine Untersuchung stattfinden würde. Die beiden blieben einfach weggesperrt. In solchen Fällen arbeiteten die völlig vom Schmiergeld zerfressenen Mühlen der Justiz in Zeitlupe. Sicher würde es eine Verhandlung geben. Bis dahin konnte aber viel Zeit vergehen. So viel Zeit, dass es eigentlich auch gleich egal sein konnte. Anwälte, die durch stetes Anklopfen und Stören diese Prozesse im System beschleunigen konnten, waren weder für Rocco, noch für Maya oder die zahnlose Gewerkschaft erschwinglich. So blieben Anna und Carlos hilflos in Haft, während ihr Sohn seinen ganzen Zorn in seine Bilder legte. Zu Glück war Lisa ein wenig Balsam für seine Seele. Sie sagte nie viel, war aber immer da, gab ihm Halt und Trost. Sie war soviel erwachsener, als sie selbst in diesem Alter gewesen war, dachte Maya dann oft. Und es stimmte sie traurig, dass die Selbstverständlichkeit, mit der Lisa das machte, daher rührte, dass sie nie eine andere Wahl gehabt hatte.

      Meistens kamen am Nachmittag noch weitere Jugendliche bei Maya vorbei. Roccos Freund Stick arbeitete abends als Spüler in einem Restaurant. Er hatte spät Schluss, schlief bis Mittag, um schließlich verschlafen und zerzaust bei Maya aufzukreuzen. Dann schnappte sich der 17-Jährige die alte Gitarre, die Rocco von seinem Vater bekommen hatte, und erfand neue Melodien. Manchmal waren auch Schmählieder darunter. Anzüglich und bissig. Fielen dem dürren kleinen Kerl mal keine Melodie und kein böser Vers ein, dann trommelte er. Alles, was er finden konnte, wurde zum Klangkörper. Und das so lange und so ausdauernd, bis es wieder an der Zeit war zu gehen oder Rocco ihm Schläge androhte, sollte er seine Nerven noch länger strapazieren.

      Dann waren da noch Annie und Katja Quinn. Die Schwestern waren 13 und 15 Jahre alt und kamen oft nach der Schule, um im Atelier Hausaufgaben zu machen. Den Rest des Nachmittags verbrachten sie entweder ebenfalls mit dem Pinsel in der Hand, oder auf Mayas durchgesessener Couch.

      Tatsächlich behelligten sie Maya wenig. Sie gab ihnen einfach Raum, ein wenig Farbe und die Gelegenheit zusammen zu sein. Wann immer sie wollte und die Zeit dazu fand, konnte sie sich in die Gemeinschaft einklinken, lustige Lieder mit Stick singen, eine ordentliche Farborgie starten, Annie Modell sitzen oder schlicht einen Abend mit Pizza für alle verbringen. Doch niemand betrachtete sie als Ersatz-Mutter. Maya wäre der Gedanke allein schon unheimlich gewesen. Sie wollte keine Autorität sein. Nicht einmal ein Vorbild. Sie wollte nur Zeit mit diesen Jugendlichen verbringen. Und ja, für Lisa und Rocco fühlte sie sich auch verantwortlich. Aber eher, wie eine ältere Schwester.

      Im Moment war Maya jedoch alleine in ihrem Atelier. Es war kurz vor Mittag und das Café würde erst in ein paar Stunden öffnen. Rocco war unterwegs, die Mädchen hatten noch Schule und Stick träumte wahrscheinlich gerade von einem nie enden wollenden Schlagzeugsolo. Maya wollte noch an einem Bild weiterarbeiten, das sie vor ein paar Tagen begonnen hatte. Haarfeine Linien sollten sich über einen dunklen Hintergrund bewegen, sich kaum überkreuzen, dicker und dünner werden, enden. Ihr war noch nicht klar, mit welchen Farben und auf welchem Untergrund sich ihre Skizzen am besten umsetzen ließen. Das musste sie ausprobieren. Beherzt griff sie zu den Farbtuben – nur um gleich darauf festzustellen, dass viele beinahe leer waren. Tja, das war der Nachteil an einem Mitbewohner, der dasselbe Hobby teilte.

      „Rocco, du verdammter Verschwender!“, seufzte Maya und drückte vergeblich an einer schwarzen Farbtube herum. Frustriert ließ sie sie schließlich in den Mülleimer fallen und machte sich auf die Suche nach Ersatz. Was sich als ziemlich schwierig herausstellte. Das ohnehin bereits ansehnliche Chaos in ihrem Atelier hatte seit Roccos Einzug eine schier unermessliche Größe angenommen. Nichts lag mehr an seinem Platz – nicht mal annähernd. Überall flogen Papiere umher - zwischen leeren Gläsern, Bierflaschen und allen möglichen farbbefleckten Oberflächen. Maya schwor sich, Rocco heute zum Aufräumen zu verdonnern. Oder vielleicht doch eher morgen? Rocco musste Maya heute Abend im Café vertreten. Die Ladenbesitzer des Viertels hatten zu einer Versammlung eingeladen. Sie wollten ein Straßenfest zu Gunsten Obdachloser organisieren und hatten auch Maya gebeten zu kommen. Maya hatte keine besondere Lust hinzugehen. Sie kannte kaum jemanden aus dem Viertel richtig. Sie tauschte lediglich Höflichkeiten aus, hielt sich im Hintergrund. Andererseits bot das Straßenfest vielleicht eine Möglichkeit für Stick, Rocco und die Mädchen, mal zu zeigen, was sie konnten. Stick würde sicher liebend gerne mit seiner Band auftreten. Also musste Maya dort heute Abend wohl oder übel hin.

      „Aber morgen, morgen räumst du auf, du fauler Hund!“, murmelte Maya. Sie würde ihn heute auf jeden Fall noch kräftig ins Gebet nehmen. Dafür war sicher Zeit. Denn wenn das hier so weiterging, musste er wieder ausziehen – punktum.

      „Hier findet man ja über…“ Maya verschlug es die Sprache, als sie einen großen Bogen Papier beiseiteschob. Darunter kam eines von Rocco Bildern zum Vorschein. Eine Collage aus Papier und Acryl. Düster und bedrohlich. Maya hatte nicht mitbekommen, wann er daran gearbeitet hatte. Sie betrachtete die 50 x 70 cm große Leinwand eingehend. Grünliches Schwarz war die dominierende Farbe. Rocco hatte zerknittertes Papier aufgeklebt und dunkel bemalt. Unterbrochen nur durch wenige, rote Farbflecken. Aus diesem Hintergrund grinsten Maya fünf blasse Gestalten entgegen. Zwei davon erkannte Maya sofort. Ganz ins Zentrum hatte Rocco Victor Mocovic gesetzt. Ein aalglattes Äußeres, die Zähne spitz wie bei einem Piranha, an den Händen Blut. Hinter seiner rechten Schulter lächelte Scar ein boshaftes Lächeln. Zumindest nahm Maya an, dass er es war. Sein Gesicht hatte sich ihr nicht so eingebrannt wie das seines jüngeren Bruders Victor. Scar mied das Rampenlicht und tauchte so gut wie nie auf Fotos auf. Aber jedes Kind dieser Stadt wusste, dass Scars Gesicht von einer langen Narbe durchzogen war. Wie es dazu gekommen war, war nicht genau bekannt. Also schossen die Gerüchte darüber ins Kraut. Tatsache war wohl, dass Scar während der Bandenkriege entführt worden war. Von einem verbündeten Clan der Stratovs, vermutete Maya. Manche behaupteten nun, Scar wäre gefoltert worden und hätte erst Familiengeheimnisse preisgegeben, als man ihm das Gesicht zerschnitten hatte. Andere glaubten, Scar hätte freiwillig ausgepackt. Sein Vater hätte ihm deshalb nach seiner Rückkehr aus Wut ein Messer über das Gesicht gezogen. Einige spekulierten auch, es wäre Victor gewesen, der seinen Bruder entstellt hatte. Wie dem auch sei: Scar - der Verräter - war daraufhin in jedem Fall degradiert worden. Vom Thronfolger zum Handlanger im Hintergrund.

      Rocco hatte Scar ein düsteres Äußeres verliehen. Maya fragte sich, ob der Scar auf dem Bild tatsächlich Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit hatte. Hatte Rocco irgendwo doch ein Foto gesehen? Oder entsprang das Ganze hier seiner Phantasie? Vielleicht war er dem Narbengesicht sogar schon einmal begegnet. Maya schauderte bei dem Gedanken, Rocco könnte diesem Monster gegenüber gestanden haben. Sie kannte die Eigenschaften, die man Scar zuschrieb: schweigsam, brutal, blutrünstig, skrupellos. Selbstverständlich ein Verräter. Aber war sein Kopf tatsächlich kahlrasiert? Und lagen seine Augen wirklich so tief in den Höhlen? Maya wusste es nicht.

      Der Victor Mocovic auf Roccos Bild entsprach jedoch definitiv der Wirklichkeit. Maya wusste nicht genau, wie es dem Jungen gelungen war, den Sadismus in Victors Gesichtszüge zu malen. Waren es die stahlblauen Augen? Es waren doch immer die Augen. Oder lag es an der Art, wie sein Grinsen dargestellt war? Es war erstaunlich, wie gut Rocco diesen Wesenszug eingefangen hatte.

      Von den Händen aller Gestalten auf diesem Bild tropfte Blut in das Schwarz des Hintergrunds. Die drei Personen hinter Victor und Scar waren Maya unbekannt. Ihre Gesichter lagen ein wenig mehr im Schatten. Der Focus gehörte den beiden Brüdern. Es war ein eindeutiges Bild mit einer unmissverständlichen Aussage. Rocco würde es vernichten oder vergraben müssen, wenn er sich nicht in Gefahr bringen wollte.

      „Was sagst du dazu?“ Beinahe hätte Mayas Herz vor Schreck den Geist aufgegeben. Sie hatte nicht bemerkt, dass Rocco ins Atelier gekommen war.

      „Heilige Scheiße“, murmelte sie und hielt sich sicherheitshalber an der Tischkante fest. Ihre Knie waren weich wie Gummi. Aber es wurde schnell besser.

      „Ich