Gesprengter Horizont. Matthias Nelke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Nelke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752916461
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Lebensabschnitt nur noch ein bisschen Geld hatte machen wollen. Er wollte den Lincoln. Er war gekommen, um ihn zu kaufen, nicht um ihn sich anzuschauen. Schon als er das Lenkrad herumgedreht hatte, um auf den Rastplatz zu biegen, war er verloren gewesen.

      »Was war nochmal der Preis?«

      Der Wind wurde immer eisiger, der Schnee dicker. Sonne und Schmerzmittelpegel sanken langsam hinter den Horizont. Lincoln musste weg.

      »Wozu wären Sie denn bereit?«

      Pajero prustete. »Ich müsste das Licht reparieren und die Delle. Und den Kofferraum. Der Motor hat sich auch nicht ganz geschmei­dig angehört.«

      Der Motor hatte geschnurrt wie ein Kätzchen. Lincoln hatte Paje­ros Kauftaktik bereits erkannt, als er ihm die Hand hatte zerdrücken wollen. Jetzt gerade überlegte Pajero, wie dreist er sein durfte; wie weit er einen jungen Mann, der einfach nicht auf dem Auto sitzen blei­ben wollte und furchtbar schlecht im Verhandeln war, im Preis drücken durfte, ohne dass es auffiel.

      »Achthundert.«

      Der Lincoln war mindestens das zehnfache Wert. Der Fahrer hat­te einmal über das Zwanzigfache dafür bezahlt.

      »Abgemacht.«

      Sie schlugen ein.

      Vier Stunden später saß ein junger Mann, der einmal einen Lin­coln Town Car und ein lückenloses Lächeln besessen hatte, auf der anderen Seite der Pyrenäen und am anderen Ende der Schnellstraße E-07 auf dem Rollfeld des Flughafens im französischen Pau in Flug AR4372 nach Casablanca, der ihn die Hälfte der einzigen achthun­dert Euro gekostet hatte, die er seit langem besessen hatte. Neben ihm stand ein gekaufter Rucksack voller ausschließlich gekaufter Dinge. Das Leben war nie gut zu ihm gewesen. Schlechter noch, nachdem er sein ganzes Geld für ein gewisses Präsidenten-Schlachtschiff geopfert hatte, dessen Fahrersitz mit einem seltsam blutfarbenen Faden zusammengenäht worden zu sein schien — auch wenn der junge Mann diesen Zusammenhang nicht verstehen konnte. Er dachte ausschließlich daran, ob sie die schwangere Frau bereits vermissten, die er gestern Abend versehentlich überfahren und dann in seinem Kofferraum versteckt hatte, und wie lange das Bleichmittel ihren Geruch überdecken würde. Er sah über die Trag­fläche hinweg, suchte die Antwort in der Nacht und ließ sich vom Start in den Sitz drücken.

      15. Kolibriherz

      [17. August 2011, zweiter Tag]

      [t minus 35 Stunden]

      [Statenkwartier, den Haag, 04:01]. Thomas de Jong glaubte, die Tragweite der Nachricht unter seinem Arm drücke den Fahrstuhl in die Tiefe. Die Kladde wog schwer, obwohl sie nur ein Blatt Papier enthielt; die Frau am Telefon hatte nicht viel gesagt. Thomas hatte kurz überlegt, ob er das Papier nicht gefaltet in der Innenseite eines Jacketts transportieren sollte, doch am Ende hatte er zur Kladde ge­griffen. Er besaß kein Jackett. Außerdem strahlte die Kladde Wich­tigkeit aus, und wer wie er Seilspringen mit der Kommandokette spielte, den konnte eine gewichtige Ausstrahlung weit bringen. Das hatte Thomas beim letzten Mal gelernt.

      Wenn das wieder schiefläuft, gibt’s keinen auf die Finger, dachte Thomas. Dann gibt’s den Fußtritt vor die Tür.

      Ein Pling verkündete, dass er am Ziel war. Thomas entstöpselte das Handy, mit dem er das Fahrstuhlprogramm manipuliert hatte, steckte es in die Bauchtasche seines Sweatshirts und trat auf den Flur des tiefsten Geschosses der Europol-Zentrale am Statenkwar­tier in Den Haag. In der echten Welt bezogen die Chefs wichtiger Si­cherheitsbehörden keine Penthäuser und verglasten Büros. Passa­gierflugzeuge und Raketenköpfe reichten nicht unter die Erde.

      Sofort setzte Thomas Tunnelblick ein. Eigentlich hatte er damit schon im Fahrstuhl gerechnet. Immer wenn er nervös wurde und sein Adrenalinspiegel stieg, verabschiedete sich der Sauerstoff in seinem Hirn wie aus einem davonschießenden Luftballon. Weg war er. Schon zählte Thomas die Sätze des Memos. Dann die Silben, dann die Buchstaben. Transkribierte es in Binärcode. Morste es sich von einer Hirnhälfte in die andere. Als er es sich gerade in Braille-Schrift vorstellte, als Installation aus Eierpackungen oder als Tul­penbeet im Japanischen Garten, bemerkte er das Muster des Tep­pichbodens. Winzige Dreiecke bis zum Horizont, für Thomas nur eine weitere kalibrierbare Linie. Und schon begann er sie anzuord­nen. Auf dem Boden leuchteten Trapeze auf, Parallelogramme, ein Octagon. Irgendwann Wörter, dann Sätze, am Ende ein Liedtext von Oasis. Slowly walking down the hall, faster than a cannon-ball…

      »Wie sind Sie hier runtergekommen?«

      Thomas Kopf schoss hoch, ertappt.

      Er stand am Ende des Korridors. Die letzte Sicherheitsschranke vor der Bürotür des Oberhaupts von Europols eigener Antiterrorab­teilung bildeten keine Agenten in maßgeschneiderten Anzügen, sondern eine Frau hinter halbmondförmigen Brillengläsern und ei­nem Schreibtisch aus hellbraunem Teakholz. Auf dem Schild an der Schreibtischkante stand »A. Spirow«.

      »Fahrstuhl.« Thomas deutete über die Schulter.

      »Sie haben keine Sicherheitsfreigabe.«

      Thomas sah an seinem Sweatshirt herunter. Es war keine Frage.

      »Verstecken Sie eine Pizza da drin?«, fragte Frau Spirow. Sie deu­tete auf die Kladde.

      »Bitte?«

      »Piz-za.« Ihr Mund sah gruselig aus, wenn er Wörter überdeut­lich artikulierte. Thomas sah auf die Kladde, als müsste er sich sel­ber vergewissern. Sein Gehirn reagierte gerade noch rechtzeitig.

      »Uh-huh.«

      »Sorte?«

      »Zwiebeln und Thunfisch.« Thomas kannte alle Codes.

      Frau Spirow war nicht überzeugt. Bis jetzt war sie nicht aufge­standen. Thomas vermutete, dass unter dem Tisch eine Waffe lager­te, aber vielleicht hatte er auch zu viele James Bond Filme geguckt.

      »Sie ist nicht da, OK? Lassen Sie es ruhig hier.«

      Sie hielt die Hand nach der Kladde ausgestreckt. Thomas Hände drückten sie fester an seine Brust. Er hätte kein Fahrstuhlprogramm in der Europol-Zentrale gehackt, wenn er nicht gemusst hätte.

      »Sie haben keine Sicherheitsfreigabe«, antwortete er.

      Die gesenkten Mondgläser musterten ihn. Der surrende Compu­ter hinter dem Pult füllte die Stille. Als Frau Spirow begriff, was Thomas vorhatte, war sie schon zu spät. Er drückte die Klinke der Bürotür nach unten, und dachte noch, dass es wortwörtlich passte: Frau Spirow hätte schlichtweg früher aufstehen müssen.

      Der Raum, in dem Thomas sich einschloss, war vollkommen mit Holz verkleidet. An der Decke glommen im Holz versteckte Lam­penspots. Der Stuhl am Schreibtisch gegenüber der Tür stand mit der Lehne zu ihm, wie erst vor kurzem benutzt. Dazwischen ein Sofa, zwei Ledersessel, ein Glastisch auf einem Teppich mit kurzem Flor, Bilderrahmen neben dem Laptop, Cognac-Karaffen auf einem Beistelltisch in der Ecke, eine Skulptur aus verschlungenen Sternen in einem Aktenregal. Ein in der Verkleidung eingebautes Waschbe­cken, dessen Hahn tropfte. Fünf, dachte das Kolibriherz. Fünf Rah­men, fünf Karaffen, fünf Zacken. Selbst der Glastisch war ein Penta­gon. Schon begann Thomas die Tropfen des Wasserhahns in Morse­code zu übersetzen: lang, kurz, kurz, lang...

      Eine Hand tauchte hinter dem Sofa auf. Dann der Kopf.

      »Wie sind Sie hier reingekommen?«, fragte der Kopf.

      »F-fahrstuhl.«

      »Sie haben keine Sicherheitsfreigabe.«

      »Ich habe Pizza.« Thomas schluckte. »Zwiebeln und…

      »Thunfisch, schon klar.«

      Die Gestalt hinter der Sofalehne zog sich in eine sitzende Position und pendelte die Beine auf den Boden. Als sie sich schwunghaft aufrichtete, versuchte Thomas die Hand zu übersehen, die nach der Lehne suchte. So wie er versuchte, den Geruch nicht wahrzuneh­men, der ihm allmählich auffiel. Wie um die Würde der Situation zu wahren, straffte