»Ein Freund«, sagte die Frau.
Ramón stieß die Pistole tiefer zwischen ihre Rippen.
»Fuck, OK. Ibañez. Selena Ibañez.« Der Name ging irgendwo in Natalies Kopf verloren. »Ich… em. Ich habe eine Notiz gefunden. Bin ihr gefolgt.«
»Was für eine Notiz?«
»Eine Karte.«
»Ha!« Natalies Kopf zuckte herum. »Du bist die Fernsehschlampe«, triumphierte der Amerikaner. »Die mich beklaut hat.«
Ibañez zuckte kaum mit den Mundwinkeln. »Mr. Killick.«
Nein, die hatte keine Angst.
»Die Schlampe hat—«
»Halt.« Natalie verstand nichts mehr. Und sie wollte nicht wieder eine Situation erst als letzte begreifen und von hinten aufrollen müssen, wenn alle vielleicht schon begriffen hatten, dass sie nicht die Autoritätsperson war, für die sie sie hielten. Ihre Haut kribbelte.
Ein, aus.
»Was für eine Karte?«
Ibañez zögerte. »Schwarz, mit aufgedrucktem ETA-Wappen. Auf der Rückseite standen eine Adresse und ein Passwort.«
»Zeig her.«
»Ich hab sie nicht dabei.«
»Wie praktisch.« Ramón schnalzte mit der Zunge.
Natalie bekam ein ungutes Gefühl. »Mr. Killick, Sie wurden von dieser Frau beklaut?«
Killick bejahte.
»Und haben sie vielleicht eine solche Karte besessen?«
Killick setzte an, zögerte. »Natürlich nicht.«
»Können Sie das Passwort für mich wiederholen.« Doch Killick wollte nicht. Natalies Gefühl verschlechterte sich. »Als wir sie vor im Hinterhof getroffen haben, haben Sie keine Pausenzigarette geraucht, richtig? Sie haben auf jemanden gewartet, mit dessen Passwort sie eingelassen würden.«
Killicks graue Augen verengten sich. Er begriff: »Ich habe alles codiert, OK.« Natalie wusste nicht, ob es eine richtige Antwort auf ihre Frage gab. Das war jedenfalls eine falsche. »Das war alles in baskisch.«
Ramón stöhnte auf. Ihm gegenüber begann Azizi zu klatschen.
»Halt die Schnauze, Kaffa.«
»Inwieweit codiert?« fragte Natalie. Azizi setzte sich wieder.
»LEED-Schrift«, sprang aus Ibañez Mund.
»LEED? Ein Fünftklässler kann das lesen.«
Killick verschränkte die Arme. »Konnte ich nicht in dem Alter.«
»Glückwunsch, Sie haben das geistige Niveau eines Fünftklässlers mit vierzig erreicht, sie—«
In Natalie trat der Gedanke zurück an die Oberfläche, dass sie diejenige war, die für die dummen Fehler dieser Vollidioten würde geradestehen müssen. Vor dem Ozean, der nie vergaß und nie vergab. Wut platzte aus ihr heraus. Danach wusste Natalie nicht mehr, welche Beleidigung genau sie Killick an den Kopf geworfen hatte.
Ein, aus. Ein, aus. Ein, aus.
»Warum sind Sie hierhergekommen«, fragte Natalie Ibañez und ging auf sie zu.
»Ich habe in Bilbao studiert. Jarrai, Haika, alles. Ist lange her. Die Karte… wie gesagt, ist lange her, dass ich Teil von so etwas war.«
»Haika!« Ramón drehte Ibañez, sodass er ihr ins Gesicht sehen konnte. Seine Pistole zielte jetzt auf ihre Niere. »Ich war lange da, sehr lange. Kann mich nicht an dich erinnern und ich glaub, das würde ich.«
»Kann mich an dich auch nicht erinnern. Glaub aber nicht das ich’s würde.«
Ramón gab ihr einen Tritt gegen die Wade und die großgewachsene Frau knickte ein. Die grünen Augen, die eben noch auf Natalie herab geguckt hatten, fielen ihr unters Kinn. Und trotzdem, sie sahen noch immer von oben herab, machten es Natalie schwer, die Oberhand über ihre Gedanken zu behalten. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Frau einen Nasenring trug.
Natalie drehte sich weg, flüchtete vor den Augen, unter denen sie nicht klar denken konnte. Die Story der Frau war hanebüchen, aus der Luft gegriffen, unwahrscheinlicher als Natalie es sich hätte ausdenken können. Solche Zufälle gab es nicht. Ibañez durfte diese Werkstatt nicht verlassen, so viel stand fest. Doch die Unbekannte war nicht der einzige Risikofall, den Natalie zu bedenken hatte. Die Lektion vom Morgen fiel ihr ein: Gewalt sorgte nicht für Autorität, nur für Wut oder Angst. Ängstliche Menschen machten Fehler, wütende Menschen noch mehr Fehler. Warum versprach die gewalttätige Lösung dann immer, dass es einem danach besser ging?
Wortlos drehte Natalie sich um und verschwand durch die nahe Tür. Sie fand die Küchenzeile, wo sie sie erwartet hatte, dahinter die Toilette, und in einem Hohlraum hinter der Rückwand des Medizinkastens die mit dem Schalldämpfer besetzte Pistole. Im Hinausgehen drehte sie den Wasserhahn so fest zu, dass das Stahl knackte.
Ein, aus.
»Letzte Worte?«
Ibañez sagte nichts. Sie kniete noch immer auf dem Boden, stolz, hohen Hauptes, mit Augen, die nichts zu fürchten schienen. Als sei das nicht das erste Mal, dass man ihr Leben bedrohte, schoss es Natalie durch den Kopf. Mit einem Mal fiel ihr auf, was für eine stickige Luft sich in der Werkstatt gestaut hatte.
Natalie hob die Waffe — ein, aus — und drückte ab.
13. Flankengott
[Zug nach Getafe, 21:44]. Die Schwärze jenseits des Fensters verschluckte die schwülen Silhouetten eines Baugerüsts und eines Krans. Am unteren Fensterrand rauschten Büsche und Gestrüpp vorbei. Eine Chemiefabrik, deren erleuchtete Türme, Trassen und Silos in der Nacht aussahen wie eine Stadt am Meeresgrund, tauchte auf, flog vorbei und ertrank wieder. Irgendwann sah Anton ein Fußballstadion im Flutlicht. Er stellte sich vor, wie es wäre hier mit den anderen zu zocken und nicht auf dem Schotterplatz hinter der Schule, wo sie Pfosten und Latte mit weißer Farbe an den dichtmaschigen Zaun malen müssen, weil es keine Tore gibt, wo sie auslosen müssen, wer als nächster den über den Zaun geflogenen Fußball aus den Brennnesseln bergen muss, und wo man nach einem Unwetter nicht auf den rechten Flügel ausweichen kann, weil sich in einer Kuhle dort das Wasser sammelt. Auf rechts treibt Anton den Ball vorwärts, spürt seinen Spann die Flanke schlagen, die eine perfekte Kurve, die Nadim ihm vorausgesagt hat. Der Ball verdeckt das Flutlicht, kurze Sonnenfinsternis, alles steht still. Dann tropft der Ball auf Amirs Kopf und von dort in den Winkel. Alle laufen zu ihm, Kamil vom linken Flügel, und Amir, sogar Nadim aus dem Tor, sie heben ihn hoch und—
Der Zug überfuhr eine Weiche und der Waggon schüttelte sich kurz. Antons Stirn wurde von der Fensterscheibe abgeschüttelt wie eine lästige Fliege. Fast rutschte ihm die Kamera vom Schoß.
Hatte er geträumt?
Anton setzte sich in seinem Fensterplatz eines Vierers gerade hin. Um ihn herum hatte sich nichts verändert: Henrik und die drei Pimpfe Matthias, Luciano und Raphael saßen im angrenzenden Vierer. Hannah und Suza in ihrer Latzhose wurden in die Ecke bei der automatischen Schiebetür gepresst und teilten sich die Reste einer Flasche Wasser. Anton sah Bens Rucksack, Alicia und Andrés Sandalen neben anderen den Gang entlang. Keiner redete mehr. Jacob und Moritz waren über eine Stunde zu spät zum vereinbarten Treffpunkt am Bahnhof Atocha gekommen, Jacob ohne Haare, Moritz mit einem Bluterguss überm Ellenbogen. Wo sie gewesen waren, wusste niemand. Jetzt hingen sie etwas entfernt unter zwei Haltegriffen und starrten stur aneinander vorbei. Als Henrik aus Mangel an autoritären Alternativmaßnahmen angekündigt hatte, dass die ganze Gruppe für den Rest des Aufenthaltes in Madrid zusammenbleiben müsse und Erkundungen auf eigene Faust damit