Gesprengter Horizont. Matthias Nelke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Nelke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752916461
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Torres kann­te nur stolze Spanier. Sie gab keine Antwort. Europa fiel seit Jahren auseinander. Spanien steckte tief drin, sie hatte es mitbekommen. Sie dachte nicht viel daran. Sie ging zu dem Job, der ihr das Brot auf den Tisch brachte, und in ihrer Freizeit stellte sie sich hinter die Theke im »Moloch«, was ihre Miete bezahlte. Sie schlief wenig, was gut war. Weniger Schlaf bedeutete weniger Träume.

      Der Mann schnipste die Zigarette weg. Er hatte keinmal daran gezogen.

      »Lust, etwas dazuzuverdienen?« Nur eine Frage der Zeit. Viel­leicht sollte sie Fernando endlich der Polizei melden. Doch was würde Miguel denken? »Ich habe gehört, sie sind die, zu der man kommen muss, wenn man einen Gefallen braucht.«

      »Kommt auf den Gefallen an«, hörte Lucia sich sagen.

      »Nun, ich will ehrlich mit Ihnen sein.« Der Mann bleckte beim Grinsen gefräßige, schiefe Zähne. Lucia konnte seine Augen nicht mehr sehen. »Es ist mehr ein Angebot. Ein... unmoralisches Ange­bot.«

      Dazwischen — Ein Deal im Schnee

      [Stadt Jaca an der spanisch-französischen Grenze, 12. Februar 2003]

      »…ein unmoralisches Angebot, wie gesagt: Nicht vergessen! Heute Abend auf Programa uno. Wenn Sie noch nichts zu tun haben, sind Sie bei Demi Moore und Robert Redford sicher in bester Gesell­schaft.«

      »Ich weiß, was ich heute Abend tue—«

      Das Autoradio knisterte. Als sich die Frequenz wieder gefangen hatte, plapperte wieder die Frau:

      »...muss deine Frau auf der nächsten Sender-Party mal zur Seite nehmen.«

      Die beiden feixten noch eine Weile weiter; darüber, wer wessen Gesellschaft nicht von der Bettkante stoßen würde, und für wie viel Geld wer seine Ehegatten für eine Nacht jemand anderem überlas­sen würde. Während er zuhörte, fragte sich der Fahrer des Lincoln, ob sich die Wege der beiden auch privat kreuzten, in Betten und über Bettkanten. Dann verlor er das Interesse. Im Radio übernahm wieder das Knistern die Regie. Er beobachtete seinen Atem dabei, wie er an der kalten Luft kondensierte, und zog zum wiederholten Mal seine Handschuhe stramm. Sein Kiefer pochte noch immer, auch wenn er kein Blut mehr schmeckte. Wie konnte etwas, dass nicht mehr da war, nur so scheiße wehtun? Als das Paar Front­scheinwerfer von der Schnellstraße E-07 auf den Rastplatz bog und sich durch das sachte Schneegestöber, das von den Gipfeln der Py­renäen herunterwehte, auf ihn zubewegte, befand sich Johnny Cash gerade auf einem Zug nach Folsom Prison und beichtete, dass er in Reno einen Mann erschossen hatte, nur um ihn sterben zu sehen.

      Er stieg aus. Durch die frische Zahnlücke sog er die kalte Luft ein, blinzelte Schmerz und Schneeflocken weg. Der Besitzer des Mitsu­bishi Pajero umrundete bereits seinen Geländewagen. Unter den Stiefeln knackte der Schnee wie das Autoradio.

      White Noise, dachte er.

      »Das ist er?«, fragte Pajero.

      »Das ist er«, antwortete Lincoln. »1993er Lincoln Town Car.«

      Sie schüttelten sich die Hände, Lederhandschuhe quietschten. Im Stillen dankte Lincoln dem Schicksal, dass die ganze Scheiße im Winter passiert war. Im Sommer wären seine Handschuhe aufgefal­len. Pajero versuchte bereits beim Händedruck die Oberhand zu ge­winnen. Lincoln ließ ihn. Dann begann die Inspektion.

      »Linker Frontscheinwerfer ist kaputt«, bemerkte Pajero. »Kotflü­gel auch.«

      Lincoln absorbierte die Anspannung seines Körpers über die Kie­fer und ballte seine Finger zu Fäusten. Der Schmerz zwischen sei­nen Zähnen raubte ihm fast die Beherrschung.

      »Ist schon fast ein halbes Jahr her. Hat nie Probleme gemacht.«

      Pajero schien nicht sonderlich begeistert. »Können Sie ihn mal für mich aufmachen?«

      Lincoln ließ sich hinters Steuer fallen und die Motorhaube auf­schnappen.

      »Soll ich ihn mal anwerfen?«

      »Ja, bitte.«

      Röhrend sprang der Motor an. Erprobte Hände tauchten in den Motorblock, zogen an Hebeln, die den Motor aufheulen ließen, schoben Kabel und Schläuche bei Seite. In der von den Bergen her­unterschleichenden Dämmerung brüllte der Lincoln wie ein an­griffslustiger, brünstiger Stier.

      »Taschenlampe?«, fragte Lincoln.

      »Nein, danke.«

      Pajero beugte sich wieder heraus und schloss die Motorhaube. Er umrundete das Auto ein zweites Mal. Noch immer mimte er den wenig Begeisterten. Doch Lincoln wusste, dass es sich genau gegen­teilig verhielt. Pajero war begeistert. Seine wippenden Stiefel und lippenkauenden Kiefer konnten immer schlechter verbergen, dass er dieses Auto haben wollte.

      »Kann ich ihn mal fahren?«, fragte er. »Nur um den Rastplatz.«

      Fünf Minuten später standen sie wieder an gleicher Stelle, Pajero in seinem beigen Trenchcoat, Lincoln in seiner abgewetzten Leder­jacke mit hochgestecktem Kragen. Die Füße des ersten scharrten noch lauter.

      »Riecht nach Desinfektionsmittel.«

      »Ein stinkendes Auto krieg ich nicht verkauft.«

      Pajero nickte und seufzte dramatisch. »Ich weiß nicht. Ich wollte wirklich immer einen Amerikaner, aber... ich weiß einfach nicht.«

      »Sie kriegen, was sie sehen. Läuft einwandfrei.«

      »Bis auf den kaputten Frontscheinwerfer.«

      »Bis auf den.«

      »Und die Beule hier links.«

      »Und die.«

      »Der Fahrersitz ist ne Fehlproduktion, kann das sein?« Pajero zeigte Lincoln, was er meinte. Links waren die Lederbezüge mit ro­tem Faden zusammengenäht. Lincoln war das nie aufgefallen. »Oder ist das Blut?«

      Lincoln schluckte. Er war so gründlich gewesen…

      »Nein, ist ne Fehlproduktion.«

      »Und was war mit dem Kofferraum?«

      Die Worte, die Lincoln in den letzten vierundzwanzig Stunden ununterbrochen geprobt hatte, lapidar über die Lippen zu bringen, verfingen sich fast in seiner trockenen Kehle. Fast. »Klemmt, sorry.« Er schluckte. »Im Winter verzieht sich der Stahl immer, da krieg ich ihn selbst nicht auf. Da drin finden Sie sicher noch einen Verbands­kasten, Weste, Dreieck und so Zeug. Können Sie haben.«

      Er ließ Pajero jeden Punkt ausspielen, mit dem er den Preis drü­cken konnte.

      »Wie gesagt, ich würde ihn nicht verkaufen, wenn ich nicht müsste. Ich bin schon so gut wie weg, wissen Sie, deshalb hab ich auch keinen Kaufvertrag hier, oder so. Ich hab ja sogar die Flüge schon gebucht, für morgen. Ich will einfach nicht auf dem Auto sit­zen bleiben.«

      »Weltreise, hatten Sie gesagt, richtig?« Pajero nickte zu dem zu­sammengezurrten Tracking-Rucksack auf dem Rücksitz.

      »Fernweh, würde ich eher sagen.«

      »Das Leben war nicht gut zu ihnen hier, was?«

      »Nicht besonders, nein.«

      Lincoln wartete. So lange, bis er dachte, dass es Zeit war, seinen letzten Scheit hinterherzuwerfen.

      »Ich bin auch furchtbar schlecht im Verhandeln, ich will es ein­fach nur hinter mir haben. Aus dem Kopf.«

      Er konnte sehen, wie Pajero die Nachteile abwog, von denen es nicht viele gab. Ein Mann verscherbelte sein Kult-Auto für einen Bruchteil des Wertes auf einem Rastplatz nahe der Grenze. Nicht an einen Händler, nicht an einen Freund. Ohne Kaufvertrag! Doch ge­stohlen war das Auto nicht, er selbst hatte sich die Papiere zeigen lassen. Was blieb also an Zweifeln? Dass das Ganze zu schön war, um wahr zu sein, reichte nicht. Denn schon war es zurück, das gie­rige Glitzern, und alles was in den Augen des Pajero-Besitzers zu le­sen blieb, war der Wunsch, nach Hause zu kommen und Frau und Freunden von