»Das machen die immer noch, ja?«
Thomas nickte. »War mein erster Beitrag für, nun ja…« Beruf war das falsche Wort, um zu beschreiben, wie Thomas zu Europol stand, aber Berufung war zu hochtrabend. Er war dankbar, einen wichtigen Beitrag leisten zu dürfen. Er war nicht nachtragend, dass man das vor vier Jahren nicht erkannt hatte. »Für das alles hier.«
Lyndt sah aus, als überlegte sie tatsächlich, ihm zu glauben. Sie ließ sich im Stuhl zurückfallen.
»Vier Jahre, sagen Sie«, resümierte Lyndt. »Die Ausbildungsleitung lag damals noch bei Iris McAllister, richtig? Was würde sie sagen, wenn ich sie jetzt anriefe und ihr erzählen würde, dass Sie in meinem Büro sitzen?«
Vier Jahre. So lange war es her, dass Thomas das letzte Mal in einem Büro gestanden hatte, zu dem ihm die Sicherheitsfreigabe fehlte. Damals war es Iris McAllister, über deren Kopf er gegangen war. Er bezweifelte, dass Sie das vergessen hatte.
Andrea Lyndt ließ Thomas Schweigen für ihn antworten.
»Sie haben also die Ausbildung durchlaufen? Also nicht… abgeschlossen, natürlich. Aber immerhin einen Stuhl und einen Bildschirm haben sie bei uns ergattern können.« Aus Lyndts Mund war die Feststellung seiner offensichtlichen Untauglichkeit bar von jedem Spott. Bar von irgendwas. Einfach eine kühle Schlussfolgerung. Auf die das Resultat folgte: »Woher wussten Sie dann, dass ihr Name noch in Benutzung war?«
Die entscheidende Frage. An diesem Punkt würde Andrea Lyndt entscheiden, ob sie ihm würde vertrauen können oder nicht.
»Ich habe mir erlaubt, den Status des Namens in der Datenbank zu verfolgen.« Thomas stockte. »Gelegentlich.«
»Sie meinen gehackt« Grinste Lyndt? »Gelegentlich gehackt.«
Thomas nickte.
Lyndt stand auf. »Halten Sie mich für arrogant?«
»Nein, Sir. Ich meine, Ma’am, ich—« Thomas versuchte, seine Lippen zu essen.
»Richtig. Ich kann akzeptieren, dass Talent ungesehen bleibt unter diesem Dach.« So hatte es nie jemand formuliert. »Geben wir uns also für einen Augenblick dem Gedanken hin, wir haben jemanden aus dem Programm geworfen, der in der Lage gewesen wäre, unseren hauseigenen Alarm lahmzulegen, Fahrstühle zu sabotieren, unsere Firewall zu hacken, Hochsicherheitscodes zu entschlüsseln und nicht zuletzt Agnes Spirow zu überlisten. Damit kann ich leben. Aber wenn ich Sie richtig verstehe, geht mitten in der Nacht ein Anruf aus Madrid bei uns ein, als zufällig genau der Mitarbeiter Dienst hat, der zufällig in seiner Ausbildung genau den Decknamen entworfen hat, der zufällig später—« Lyndt zelebrierte jedes zufällig damit, leicht in die Knie zu gehen »—auf eines der meistgesuchten Phantome Europas geprägt und noch viel später dann in eben jenem Telefonat benutzt wurde, wo besagter Mitarbeiter den Ernst der Lage nur deshalb erkennt, weil er sich gelegentlich unbemerkt Zugang zur vielleicht sichersten Datenbank des Kontinents verschafft hat, um den Werdegang eines, und jetzt kommt der Knüller, Namens zu verfolgen. Hab ich das ungefähr richtig umrissen?«
Sie sah ihn an, durchdringender als zuvor und Thomas wusste, jetzt war der Moment gekommen, an dem seine Augen nicht zum Wasserhahn ausweichen, nicht zu der Sternskulptur und nicht zum Muster auf dem Teppichboden schweifen durften. Die braunen Augen bewegten sich nicht. Scheiße, Zeit bewegte sich nicht mehr.
»Ja—« Fast verschluckte er sich. Thomas entschied sich den Rest zu nicken.
»Und die Anruferin hat ETA gesagt? Nicht Al-Qaida, Boko Haram, ISIS?«
Er nickte noch einmal. Das schließlich ließ Lyndt zum Hörer greifen. Ob sie es tat, um den Sicherheitsdienst oder ihre Leute in Madrid anzurufen, konnte Thomas nur raten.
16. Der Köter und die Hündin
[Hostal Persal, 07:35]. Irgendwo in Madrid wackelten die Möbel. Präziser konnte Ramón zunächst nur raten. Er wusste nur, dass das Geräusch ihn geweckt, dass es erdbebenartig die schwarze Fassade seiner Traumwelt durchbrochen hatte und ihn nun daran hinderte zurückzukehren. Es kam in Abständen, fiel ihm auf. Jedes Mal dachte er, es käme zum letzten Mal, und jedes Mal irrte er sich.
Ramón hob den Kopf. Sofort drohte ihm sein Schädel mit Zerbersten. Die Möblierung des kleinen Hotelzimmers kreiste um ihn, das Samtrot der Lederbezüge, die Goldtapete, die weißen Bettbezüge. Irgendwo in diesem Wirbel aus Farben und Temperaturen verlangte das Geräusch nach ihm. Ramón überstimmte seinen Kopf und richtete sich weiter auf. Dabei musste er einen Körper von sich hieven, dessen Anwesenheit er sich gar nicht bewusst gewesen war. Irgendetwas warmes, haariges. Etwas mit Haut, die schwitzte. Die Temperatur war die ganze Nacht nicht unter dreißig Grad gefallen.
Brrrr-brrrr.
Ramón lokalisierte die Quelle in einer der dunklen Zimmerecken. Er hatte das Gefühl, er befände sich im dunklen Lagerraum eines fahrenden LKWs. Er rollte den verschwitzten Körper vollends von sich und gönnte sich kurz einige Augenblicke der Vorbereitung, ehe er schwunghaft aufstand. Augenblicklich schwappte Restalkohol durch seinen Magen, holte ihn fast von den schwimmenden Beinen. Im Dunkeln suchte seine Hand den Bettpfosten, fand ihn, hielt inne. Das Hämmern seines Schädels erstickte kurz das Vibrieren. Aber er wusste noch, wo es hergekommen war. Angekommen an dem kleinen Tischchen stanzte das Handy eine blendende Säule LED-Licht in die schummrige, von kaltem Zigarettenrauch durchzogene Dunkelheit. Ramón ließ sich an der Wand daneben zu Boden gleiten.
»Ich bin da.«
»Wir haben ein Problem.« Ramóns Gehirn war noch immer so betäubt, dass er als erstes daran dachte, was für eine hohe Stimme für einen Mann das war. Dann sickerte langsam alles zurück.
»Ich weiß.« Seine Zunge fühlte sich geschwollen an. »Du hast jemanden erschossen.«
»Ein anderes Problem. Ein lebendiges.«
»Scheiße, du legst ein Tempo vor.«
»Spar dir—«
»Ich sag ja nur«, gähnte Ramón. »Kaum übernimmst du, läuft alles aus dem Ruder.«
»So wie vor sieben Jahren, ja?«, antwortete el Viento ruhig. Gestern hatte sie bei dem Kommentar komplett die Beherrschung verloren und sie hatten sich minutenlang darüber angekeift, wer es vor sieben Jahren verbockt hatte. Ramón hatte gar nicht gewusst, dass die Schlampe damals schon ihre Finger im Spiel gehabt hatte. Sie musste Mitte zwanzig gewesen sein! Drei Bomben, Ramón, und ihr wart zu bescheuert, sie vernünftig zu zünden, Handys ohne funktionierenden Zünder, Lastwagen, die wegen kaputter Bremslichter in Polizeikontrollen geraten, fehlende Kommunikation und am Ende sogar noch öffentlich den Schwanz eingezogen. Soll ich weitermachen? Ramón erinnerte sich: Er hatte auch gestern den Kürzeren gezogen.
»Ich glaube, das hatten wir schon«, knurrte er. Mit den Füßen kramte er zwischen den Kleidungsstücken am Boden herum, doch die Pistazienpackung war nicht dabei.
»Dann verschwende nicht unsere beschissene Zeit.«
»Komm zur Sache.«
»Chamartín, eine Stunde«, kam die Antwort. »Also schmeiß die Nutte raus, spül das Koks im Klo runter und zieh dich an!«
Ach ja, das Koks. Wo hatte er das eigentlich gelassen…
»Bin ich eigentlich der einzige Therapeut in deinem Adressbuch«, nuschelte Ramón, während er den Kopf im Angesichts dessen, wozu sich sein vorletzter Tag auf Erden gerade zu entwickeln drohte, gegen die Tischkante schlug. Er wiederholte es nicht. »Oder bin ich einfach dein einziger Freund?«
Lange kam keine Antwort. Dann sagte die Stimme: »Europol ist in der Stadt. Jemand hat ihnen gesteckt, dass es einen Anschlag geben könnte.«