»Das reicht!«
Natalie glaubte nicht, dass es funktionieren würde. Dass sie sich prügelten wie Kinder, machte sie nicht zu ihrer Mutter.
Sie hielt sich solange mit dem Gedanken auf, dass es nicht funktionieren konnte, dass sie zunächst gar nicht begriff, dass Ramón sie ansah, dass Guerilla sie ansah, dass der dunkelhäutige Mann, der gerade aus dem Gang getreten und plötzlich stehen geblieben war, sie ansah und dass Killick und der hünenhafte Araber aufgehört hatten sich zu schlagen und sie ansahen.
Der Neuankömmling war der erste, der sich rührte. Er umrundete das Scherbenmeer, nahm sich einen der Hocker und setzte sich zwischen Natalie und Guerilla an den Tisch.
»Entschuldigung, ich habe mich verspätet.« Sein Englisch hatte einen stark französischen Einschlag.
Raheem Rafiq, produzierte Natalies Gehirn, als sie sein Gesicht archivierte: hager, ein Kopf wie ein Totenschädel, tiefe Augen, umsetzt von kleinen schwarzen Flecken. Die Mutter Mali, der Vater Franzose. Geboren und aufgewachsen im Pariser Einwandererviertel Goutte d’Or, Hochbegabtenstipendium, Studium an der Sorbonne, Abschlussarbeit über die Aktualität der Thesen von Étienne de La Boétie, dem ersten modernen Anarchisten. Vor fünf Jahren von der GICM, der Islamischen Kampfgruppe Marokkos, kontaktiert. Seit zwei Jahre lebte er im Brüssler Stadtteil Molenbeek das Leben eines europäischen Schläfers.
Die Gewissheit, dass ihr Hirn noch funktionierte, beruhigte Natalie. Sie zwang sich, die Spannung ihrer Muskeln aufzugeben. In ihrem Hinterkopf schlich sich bereits wieder der Gedanke an, einen der Wasserhähne in den angrenzenden Räumlichkeiten nicht gewissenhaft genug geprüft zu haben—
Ein, aus.
»Mr. Killick?« Ein. »Herr Azizi?« Aus. »Sind Sie dann fertig?«
Killick sprang als erster auf, als könne er so als Sieger vom Platz gehen. »Ich setze mich an keinen Tisch mit diesen Wüstenwichsern. Davon war nie die Rede.«
Sein Angreifer, Eren Azizi, fauchte ihm etwas auf arabisch entgegen, während er selbst aufstand.
Killick holte zum Tritt aus. »Fresse, Mohammed.«
»Bitte«, antwortete Azizi, sein Englisch so eindeutig eingefärbt, als kaue er Sand. »Nenn mich Atta.«
»Ein Wort, und ich schneid dich auf.«
»Hey.« Azizi hob die Hände. »I love New York.«
Liebe rahmte er in herzförmige Finger. Mit der Gelassenheit von jemandem, dem seine körperliche Überlegenheit bewusst war, setzte er sich an den Tisch. »Du werden sehen.«
»Ich hatte gesagt, das reicht!« Killick hatte schon wieder zu einer Antwort angesetzt.
Ein, aus.
Entschlüsselt zu haben, was Ramón gemeint hatte, rückte die Situation wieder in das Raster, auf das Natalie sich eingestellt hatte: Natürlich wurden der ultrapatriotische Hillbillie und der islamische Extremist keine Freunde. Killick war UFF, United Freedom Front, ein fanatischer Linksradikaler und Nacheiferer längst toter Helden, der den Arabern wie der eigenen Regierung den Tod wünschte und Stammtisch-Einzeller stolz belehrte, dass der größte Anschlag auf amerikanischem Boden vor dem 11. September, das Oklahoma City Bombing, auf das Konto eines Patrioten ging. Und Eren Azizi? Al-Qaida bis aufs Blut, über Generationen zurück. Sein Onkel Hassan war Imam in der Moschee des islamischen Kulturzentrums in Madrid, sein Cousin Amer hatte vor sieben Jahren den Kontakt zwischen Serhane Ben Abdemajid, dem ideologischen Drahtzieher des Madrider Zugattentats, und der Islamischen Kampfgruppe Marokkos geknüpft und war, was nur die Beteiligten wussten, bei der folgenden Schießerei in Leganés gestorben. Eren selbst war kein unbeschriebenes Blatt, was ihn eigentlich in Vaters Augen disqualifiziert hatte, das wusste Natalie. Doch jemand hatte Druck gemacht und eine Gesichtsoperation und eine Seefahrt auf einem illegalen Flüchtlingsboot später war Eren zurück in Madrid und versteckte sich genau dort, wo sein Cousin es vor sieben Jahren getan hatte.
Azizi steckte sein Messer weg und setzte sich an den Tisch.
»Mr. Killick?«
Ein drittes Mal musste sie ihn nicht bitten. Der Amerikaner umrundete den Tisch und setzte sich so weit weg von den beiden Arabern, wie es an einem quadratischen Tisch möglich war.
»Davon, welche Parteien Teil dieser Unternehmung sind, war nie die Rede.« Ein, aus. »Eine Kollaboration, davon haben wir gesprochen. Organisation und Kontrolle liegen in meiner Hand. Sie wurden von mir kontaktiert. Wen ich hinzugezogen habe, steht nicht zur Debatte.« Als Auftraggeber hatten ETA und Al-Qaida auf je zwei Plätzen bestanden, die übrigen hatte Vater zur Diversifizierung des Täterprofils anders besetzt. »Es interessiert mich nicht, wer weswegen hier ist und wer mit wem nicht in einem Hochbett schlafen will, comprende? Danach können Sie sich bei demjenigen beschweren, der Sie eincheckt in dem Jenseits, an das auch immer Sie glauben.« Sie sah in die Runde. »Verstanden?«
Einige nickten. Andere nicht. Ramón und Zeque Guerilla warfen sich einen langen Blick zu, den Natalie nur von Tieren kannte.
»Mr. Killick?«
»Ich mache keine Versprechen.«
»Ich machen Versprechen.« Azizi bleckte die Zähne. »Ich verbrennen Stars-and-Stripes nur zuhause.«
Und Killick sprang auf, brüllte etwas und das Ganze ging von vorne los. Kurz ließ Natalie es zu, dann schlug sie mit der Hand auf den Tisch, dass ihre Haut kribbelte. Autorität fühlte sich gut an.
»Haben das alle verstanden?«
Als Antwort pochte es auf dem Flur zur Tür. Das Kribbeln verschwand.
»Fehlt noch jemand?«, fragte Ramón.
Bestimmt der Klempner. Eine Wasserleitung war nicht vom Netz genommen worden und nun war das Wasser aus dem ehemaligen Duschraum auf die Straße gelaufen und sie waren alle im Arsch… Natalie lauschte, wartete ab, während sie der Gesamtsituation wie einem Felsplateau zusah, das langsam ins Meer rutschte. Wieder pochte es.
»Guck nach.«
Ramón holte seine Pistole aus dem Hosenbund, legte sie flach an seinen Oberschenkel und ging, um die Tür zu öffnen. Er kam nicht allein zurück.
»Wir haben ein Problem.« Er stieß es vor sich her. »Vorwärts, Schätzchen.«
Das Problem war mindestens einen Meter fünfundachtzig groß, hatte schwarzes langes Haar, trug ein schwarzes Top, dunkle Jeans und wurde von Ramón am Arm in die Halle gezerrt.
»Warum hast du—«, sie hier reingebracht, warum hast du überhaupt die beschissene Tür geöffnet, hatte Natalie eigentlich sagen wollen, doch Ramón kam ihr zuvor.
»Also gehört sie nicht zu dir?«
»Nein.« Ein, aus. Ein böses Gefühl kam. »Wieso?«
»Die Schlampe kennt das Passwort.«
Natalie winkte dem Plateau zum Abschied, als es ins Meer fiel.
Vielleicht konnte sie sitzen bleiben, dachte Natalie, und wieder warten, bis ihr zufällig die richtige Lösung zuflog. Doch diesmal würde sie nicht darüber hinwegtäuschen können, dass sie die Kontrolle verlor. Diesmal erwarteten die anderen von ihr eine direkte Lösung — nein, sie erwarteten, dass Natalie bereits darauf vorbereitet war. Sie erwarteten el Viento.
Natalie musterte die Fremde. Als erstes fiel ihr auf, dass die junge Frau vor einer Pistole im Rücken keine Angst zu haben schien. Es blieb das einzige, was ihr auffiel. Denn kaum hatte Natalie ihr in die Augen gesehen, in dieses alles aufsaugende, furchtlose Grün, konnte sie sich nicht mehr daraus befreien. Als sie es doch schaffte, schienen Stunden verstrichen zu sein, und alles, was Natalie sich fragte, sprang ihr aus dem Kopf direkt auf die Zunge:
»Wer