Gesprengter Horizont. Matthias Nelke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Nelke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752916461
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Schlaganfall?«

      »Nein, ich bin noch da.« Ramón schob den getrockneten Speichel in seinem Mund herum, ließ seinen Verstand alte, über Nacht still­gelegte Schaltkreise seines Hirns zurückerobern. »Darum geht’s, du glaubst, ich war’s?«

      »Nein.« Drei abwartende Atemzüge. »Anrufer war eine Frau.«

      »Eine Frau, huh?« Ramón kostete den Geschmack dieser Informa­tion. »Lässt nicht viele Optionen.«

      Ihm fiel genau eine ein.

      »Hast du Guerilla gesehen?«, fragte el Viento.

       OK, zwei.

      Ramón schielte zum Bett. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er dort nur einen Körper sah. Statt zu antworten, ging sein Gehirn auf Reisen.

      »Wenn ja, bring sie mit. Eine Stunde.«

      Das Freizeichen erklärte das Gespräch für beendet und Ramón ließ erschöpft den Hörer aus der Hand gleiten.

      »Jesus y Maria, was eine Fotze.«

      Der bevorstehende Tag rang ihn bereits zu Boden, ehe Ramón ei­nen Schritt vor die Tür gesetzt hatte. Finde die Pistazien. Oder das Koks. Er riss die Gardinen auf. Fast warf ihn das Tageslicht von den Beinen. Ramón erleichterte sich im Badezimmer und kippte, was an Alkohol übrig war, hinterher. Die leeren Flaschen sammelte er im Mülleimer, und daneben, als dieser voll war. Zeque fand er auf dem Boden neben dem Bett, nackt, das Gesicht nach unten. Das Licht glänzte auf ihrem dunklen, drahtigen Körper, aus dem jeder Kno­chen hervorstach. Ihre Rastalocken bildeten einen Seestern auf dem Teppich. Er überprüfte ihren Puls und trat sie halbherzig wach. Da­nach warf er den Stricher aus dem Bett.

      Vor der Tür zum Badezimmer trat Ramón in den Rauchmelder, den sie gestern von der Decke geschraubt und zum Aschenbecher umfunktioniert hatten, und sandte das Plastikgehäuse rauchschleu­dernd gegen die Wand. Damit gab er das Aufräumen auf. Überall lagen Zigarettenstummel und Asche. Unter dem Bett funkelten Scherben. Am besten, er opferte einen oder zwei seiner Hunderter, um eine illegale Einwandererin und ein eisernes Schweigen zu kau­fen, anstatt seine Zeit selbst zu vergeuden.

      Das Kokain fand er im Waschbecken. Er hatte es am Vorabend vor einer Bar im Studentenviertel gekauft, Emilio hatte ihm den La­den empfohlen. Kein Wunder, dass es so grässlich gewesen war. Ein plumper High, sofort vorbei. Ramón sammelte die kleine Tüte mit dem weißen Pulver, den Zimmerschlüssel, Mobiltelefon und das Portemonnaie mit dem Rest der 10.000 Euro im Waschbecken, such­te dann seine Hose und zog sie an. Alles, was für seine letzten drei­ßig Stunden von Belang sein würde, landete in den vier Hosenta­schen. Die Pistazien steckten noch in der Gesäßtasche. Dann drehte er den Wasserhahn auf.

      Er spürte das Messer unter seinem Nacken, noch bevor er sich ganz aufgerichtet hatte. Sofort tat sein Glied es ihm gleich.

      »Was wollte die Kurze?« Eine rauchige Stimme.

      »Treffen uns in der Werkstatt«, antwortete Ramón. »Zwei Stun­den.«

      Aus der Kehle der Kolumbianerin sprang ein lustvolles Glucksen. »Genug Zeit.«

      Die Messerspitze wanderte seine Wirbelsäule hinunter, während die andere Hand um seine Hüfte schlich, und unter den lockeren Bund seiner Hose, wo Ramón sie bereits steif erwartete. Wie eine Schlange packte Zeque zu. Dann riss sie ihn daran herum.

      Sie stand so dicht vor ihm, dass ihre Nippel seine Brust berühr­ten. Ramón konnte ihren Schweiß riechen. Vielleicht mehr. Er spür­te die Kälte des Messers an seinen Nieren, dann tiefer. Sein Herz machte einen weiteren herrlichen Satz, dann kappte die Klinge sei­nen Ledergürtel mit einem Ruck und die Hose schlug zu Boden, beschwert vom Gewicht des Rests seines Lebens in den Taschen.

      Zeque warf den Kopf in den Nacken, bleckte hungrige Zähne. Ramón stieß sie so fest gegen die Wand, dass eine Kachel knackte. Das Messer klirrte zu Boden.

      »Hey«, rief Ramón ins Hotelzimmer. Der Stricher klaubte gerade sein dunkelgraues Freddy Mercury-Shirt auf. »Los, verpiss dich.«

      Der Junge schaute so erschrocken wie gestern. Ramón hatte vergessen, wie er hieß. Irgendwas, das so fett klang, wie er aussah — Carlos, Nacho oder Oscar. Irgendwo schlug eine Tür ins Schloss. Der Schweißfilm auf Zeques nackter Haut glitzerte im Licht, das durch die Tür fiel. Obwohl sie kleine Brüste und harte Kurven hatte, warfen die Muskelstränge unter der braunen Haut runde Schatten.

      »Hast du mit Europol geredet?«, fragte Ramón, ohne dass ihn die Antwort interessierte. Die Kolumbianerin leckte sich die Lippen. »Hatte ich auch nicht gedacht.«

      17. Der König der Schwerter

      [Westin Palace Hotel, 08:02].

      »Was hattet Ihr nicht gedacht?«

      »Dass Ramón dahintersteckt«, antwortete Vater, jetzt wieder in seiner echten Stimme, und klappte das Mobiltelefon zu. In Telefona­ten sprach er eine halbe Oktave tiefer, um Natalie zu imitieren. Es war eine der vielen Vorsichtsmaßnahmen, die sie hatten treffen müssen, um die Illusion aufrecht zu erhalten, dass Natalie el Viento war. »Zu einfach. Azizi hat gesagt, er und Rafiq haben die ganze Nacht in Chamartín verbracht. Mit Emilio Ybarra und der Frau, dieser Selena Ibañez. Keiner von beiden hat telefoniert.«

      Er setzte sich wieder an den Hotelzimmertisch, die Augen auf das Glasbrett zwischen ihnen. Natalie konnte sehen, wie sein Ge­hirn den Aufmerksamkeitsschalter umschmiss: Er zog den Läufer vor und drückte den Schalter der Schachuhr, der seine Zeit stoppte und Natalies wieder zum Laufen brachte. Er hatte sie während des Telefonats nicht einmal angehalten.

      »Was denkst du?«

      »Nicht Azizi, nicht Rafiq, keiner der Ybarras. Bleibt nur Guerilla.«

      Außer ihr hatte Vater alle erreicht.

      »Aber?«

      »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es war.«

      »Warum?«

      »Zu…« Während Natalie nach dem Wort suchte, spulte die Stoppuhr Sekunde um Sekunde von ihrer Bedenkzeit. Tock-tock. Sich auf zwei Dinge gleichzeitig konzentrieren zu müssen, führte dazu, dass sie in beiden baden ging. Am Ende wählte Natalie den Zug, der ihr am wenigsten falsch vorkam und drückte den Kipp­schalter der Schachuhr. Sofort atmete sie wieder leichter.

      »Zu viel—«

      Vater nahm eine der zweiunddreißig maßgeschliffenen Glassäu­len, deren Rang nur durch Gravuren auf der Spitze erkenntlich war, und zog sie vor. Seine blank gebrannten Fingerkuppen machten kein Geräusch, als sie den König führten. Drei Sekunden, und er schlug die Uhr, tock-tock. Natalie Herzschlag erhöhte sich wieder.

      »Zu viel Wut.« Falsch, ging der Buzzer, das beschreibt es nicht annähernd! Doch sie musste den Gedanken loswerden, um Platz für ihren nächsten Zug zu schaffen.

      »Also doch Ibañez?«

      »Ich glaube nicht, dass sie was damit zu tun hat.«

      »Und warum?«

      Ja, warum eigentlich nicht? Wieder und wieder hatte Natalie es in ihrem Kopf durchgespielt, mit dem immer gleichen Ergebnis: Sele­na Ibañez konnte kein Zufall sein. Doch etwas in Natalie wollte es nicht wahrhaben. Ihr Magen. In dem seit gestern dieses flaue Gefühl wohnte, das sie dort in über dreißig Jahren nicht gespürt hatte.

      »Ich habe Euch ihr Handy gegeben.«

      »Jemand anderes könnte für sie bei Europol angerufen haben.« Keine Regung in seinem Gesicht verriet seine Emotion. Er war der Ozean. »Wir müssen davon ausgehen, dass es Komplizen gibt.«

      »Aber dann könnte es jeder gewesen sein?«

      »Exakt. Oder keiner. Hab alles im Auge.«

      Er meinte wieder das Schachbrett — glaubte Natalie zumindest. Während sie versuchte, alle