Tock-tock, lief die Zeit. Natalie mahnte sich zur Ruhe.
»Azizi fällt weg, zu emotional investiert. Ramón Ybarra genauso.« Während sie das Verdächtigenfeld sezierte, suchte sie nach der Lücke in den Reihen ihres Gegners. «Rafiq hat zu lange darauf gewartet. Guerilla oder Emilio. Impulsiv und dumm oder scheu und schmissig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer der beiden eine eigene Agenda verfolgt.«
»So wie Ramón?«
Natalies Konzentration verpuffte.
»Was hätte ich tun sollen?«, platzte es aus ihr heraus. Sie musste Fäuste ballen, um das Plastikgehäuse der Schachuhr nicht zu zerschlagen. »Sobald ich da war, war es doch schon zu spät. Er ist in die Bank rein, es war klar, was er vorhatte.« Und da hab ich meinen Pass zeigen müssen, mich ausgewiesen, mich dokumentieren lassen. Das hatte sie ihm nicht gesagt. Sie fürchtete sich davor, was der Ozean tun würde. »Ich konnte nicht zulassen, dass er bei einem Bankraub erwischt wird und uns für Strafminderung verkauft—«
»Du warst nicht vorbereitet.«
»Nein!«
»Ramón liegt zu viel an unserer Sache. Was für einen Nutzen hätte er davon gehabt, eine Bank auszurauben.«
»Er hat sich eine Maske aufgesetzt!« Natalie wusste, ihr Lehrer verabscheute Schreien, aber es half nicht. Heiße Tränen kündigten sich hinter ihren Augen an. Sie hatte gedacht, es würde sich nicht schlimmer anfühlen, als sich selbst enttäuscht zu haben, doch das tat es. »Eine verdammte Paul McCartney-Maske. Das macht man nicht zum Spaß.«
In der Stille, die folgte, hörte Natalie nur das Tock-tock der Schachuhr und das Echo ihrer Atmung.
»Wie bitte?«, fragte Vater.
Plötzlich lag etwas in der Luft, das Natalie in Vaters Gegenwart noch nie gespürt hatte. Es war seine Stimme, fiel ihr auf. Als riefe der Ozean sein Meer vom Strand, um einen Tsunami vorzubereiten.
Natalie hob den Kopf. »Ramón hatte eine Maske an. Aus Plastik.«
»Paul McCartney?«
»Glaube ich, keine Ahnung. Irgendein Musiker.«
Kontrolliert ließ Vater die Luft aus seinen Lungen entweichen. Vor einer Stunde hatte er von seinem Kontaktmann im Madrider Untergrund erfahren, dass verdeckte Ermittler von Europol durch die Straßen zogen und Fragen nach einem Anschlag und einer unbekannten Anruferin stellten. Es machte ihn noch furchteinflössender als sonst. Doch vorerst kehrte das Meer an den Strand zurück.
»Deine Zeit läuft ab«, sagte er.
Natalies Kopf pochte, konnte die Glassäulen kaum mehr voneinander unterscheiden. Aber das Tock-tock zwang sie zum Zug. Dann sah sie es, glaubte es zumindest, sah genauer hin, und sah es nach wie vor. Eine Lücke. Natalie zog den Läufer vor.
Tock-tock, machte die Uhr. Vater rührte sich nicht. Er sah nicht einmal aufs Feld.
»Mache nicht den Fehler schlauer Menschen, zu denken, dass du der Schlauste auf dem Schlachtfeld bist.« Er war und blieb der Ozean. »Bist du es nicht, kostet es dich alles.«
Vater zog und Natalie sah die Falle zuschnappen. Eine ihrer Glassäulen wurde vom Spielfeldrand verbannt. Das Spiel war verloren. Sie stand auf.
»Setzen!«
»Ich habe verloren.«
»Habe ich matt gesagt? Zieh!«
Sie zog. Nach der Reihe jagte Vater ihre verbliebenden Figuren über das Schlachtfeld, ließ sie jeden einzelnen vor den König werfen und sich opfern, bis nur noch ihr eigener König übrig war. Dann jagte er ihn. Kein Zug zu früh und keinen zu spät kesselte er ihre Königssäule ein.
»Schachmatt.«
Sofort begann Vater die Figuren in seine oberste Nachtischschublade zu räumen. Darin lag bereits das Lederetui des USB-Sticks, das Ramón ihr am Plaza Mayor gegeben hatte. Natalie blieb sitzen.
»Du hast Fehler gemacht«, sagte Vater in einem Tonfall, der klarmachte, dass jetzt die Lektion kam. »Fehler haben Konsequenzen.«
Noch immer war seine Stimme ungewöhnlich weich für einen Mann, wenn auch bei Weitem nicht mit ihrer zu verwechseln. Es war diese stille Drohung, die Natalie solche Angst machte. Zu wissen, wie sehr ihn kleinste Unachtsamkeiten erzürnten, und doch nie zu wissen, was es tatsächlich bedeuten konnte, ihn zu enttäuschen.
»Du gehst sofort nach Chamartín«, befahl Vater. »Selena Ibañez oder Emilio Ybarra, einer von beiden spielt ein falsches Spiel. Du und Ramón bringt sie zum Reden. Du wirst dieses Problem bereinigen, comprende?«
Jedes Mal wartete Natalie darauf, dass er sie selbst bestrafen könnte oder ihre Fehler zum Anlass nähme, ihr eine schmerzhafte Lektion zu erteilen. Stattdessen hielt er es ihr jedes Mal vor, als addierte er fleißig ihre Unzulänglichkeiten, bis die Summe eines Tages zu groß würde. Und davor fürchtete Natalie sich: vor dem Tag, an dem sie es herausfinden sollte.
»Du kannst gehen.«
Bevor Natalie das Zimmer verließ, überprüfte sie den Wasserhahn im Badezimmer, doch bereits vor ihrer eigenen Zimmertür kribbelte ihre Haut so stark, dass sie sich sofort unter die Dusche setzten musste. Das Geräusch des Wassers auf ihrer nackten Haut vertrieb die Paranoia. Teile davon zumindest. Das Echo ihrer Schelte holte sie ein: Killick war ein wichtiges Zahnrad. Er sei ein Risiko gewesen, unvorsichtig und stümperhaft. Und zusammen mit Azizi und Rafiq… sie hatte nicht riskieren können, dass es innerhalb der nächsten zwei Tagen eskaliert. Du hättest vorbereitet sein sollen. Vater hätte sie warnen können. Du hast impulsiv gehandelt. Eine Ermessensentscheidung. Eine falsche! Was sollen wir jetzt mit der Leiche machen. Sie könnten sie nicht ans Tageslicht tragen, und Nitroglitzerinsäure würden sie so schnell nicht auftreiben. Killick läge in der Badewanne, übergossen mit Bleiche. Weißt du, wie schnell eine Leiche bei vierzig Grad anfängt zu stinken? Nicht in zwei Tagen. In zwei Tagen wären sie weg, und die Leiche egal. Sie hatte keine Fingerabdrücke hinterlassen. Du hättest Ibañez töten sollen. Doch was, wenn sie Recht gehabt hätte? Sie könnte Killick ersetzen, wenn sie sie ausgeleuchtet hätten. Ihre Geschichte ist Schwachsinn…
Ja, das war sie. Unter knapp sechs Millionen Menschen bestahl eine ehemalige ETA-Aktivisten zufällig einen von sechs Terroristen, und dann auch noch den, der dumm genug gewesen war, Treffpunkt und Codewort in seinem Portemonnaie mit sich herum zu tragen? Oder anders herum: Die einzige schriftlich notierte Spur ihres Treffens fiel einer Frau in die Hände, die sie nicht nur verstand, sondern auch noch aufnahm und dann auf den Zug aufspringen wollte. Das war kein Zufall, das war verdächtig. Oder Schicksal, aber den Begriff kannte Natalie nur vom Hörensagen. In jedem Fall viele Worte für eine simple Wahrheit: dass sie die grünen Augen einfach nicht hatte ausknipsen können.
Ibañez’ Gesicht tauchte vor ihr auf; vom Dunst in der Duschkabine ans Nanoglas heraufbeschworen, und schon wieder vom Niesel zerstäubt. Natalie kriegte es nicht aus ihrem Kopf. Das hatte sie die ganze Nacht schon nicht. Selena Ibañez Personalausweis lag auf ihrem Nachttisch. Für gewöhnlich gebar die Dusche Selena als geläuterten Menschen. Heute konnte sie sich nicht davon überzeugen, dass es ein Fehler gewesen war, Selena Ibañez am Leben zu lassen, so sehr sie sich auch einredete, dass sie die grünen Augen hätte erschießen sollen. Die Frau spielte eine Rolle, wenn auch nur für sie, und Natalie wusste — mit einem Gefühl, das Neugier übertraf —, dass sie sie kennen lernen musste. Nur erklären konnte sie es nicht. Etwas schien am Werk zu sein, dass um ein Vielfaches größer war als sie, oder Vater, oder der Plan. Wie ein kosmisches Puppenspiel. Zum ersten Mal in ihren Leben erreichte Natalie der Gedanke, dass es Dinge gab, die Vater ihr nicht beigebracht hatte.
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