„Das sollen sie mal versuchen! Gegen uns haben die keine Chance!“, brüllt Alex, wohl in dem Bemühen, seinen kleinen Unfall vergessen zu machen.
Von mehreren Jungen kommt beifälliges Gebrumm, das aber von der freundlich lächelnden Pionierleiterin abgebrochen wird. „Tut mir leid, aber diese Diskussion werden wir auf eine der Staatsbürgerkundestunden verschieben müssen. Gleich beginnt der Appell auf dem Schulhof und da solltet ihr als Zehntklässler für die jüngeren Schüler ein Vorbild abgeben. Kleiderkontrolle! In zwei Minuten marschieren wir hinaus auf den Schulhof.“
Nachdem wir den Appell in der immer noch heißen Septembersonne mit den immer gleichen Reden und Ermahnungen hinter uns gebracht haben, geht es zurück ins kühle Schulgebäude.
„Jungs, wartet mal!“, hält Olaf uns zurück. „Sirko und ich hatten eine Idee. Kommt ihr kurz mit zur Kästner?“
„Was denn für eine Idee?“, mault Robert herum.
„Es geht um die Band.“, erwidert Olaf.
„Welche Band?“ Robert scheint die heiße Sonne auf die Denkleistung geschlagen zu sein.
„Wir wollten doch eine Band gründen.“, erinnert ihn Sirko milde lächelnd. „Schon vergessen?“
Robert schaut verwirrt zwischen uns hin und her. „Nein, das nicht. Aber was hat die Kästner damit zu tun?“
„Lass uns mal machen!“, sagt Olaf gönnerhaft und legt ihm einen Arm um die Schulter. Behutsam schiebt er Robert, der aufgrund von geschätzt 12 Kilogramm weniger Gewicht nicht wirklich eine Chance zur Gegenwehr hat, durch den Eingang und Richtung Pionierleiterzimmer.
Die Tür steht offen und so treten wir nach einem zögerlichen Klopfen ein. Barbara Kästner sortiert gerade mehrere Broschüren und schaut erstaunt auf, als sie uns vor sich stehen sieht.
„Ja?“, fragt sie halb ärgerlich, halb verwundert.
„Wir hätten da ein wichtiges Anliegen, Frau Kästner, das keinen Aufschub duldet.“, beginnt Sirko das Gespräch.
„Es geht dabei um die Diversifizierung des Angebots an Arbeitsgemeinschaften an unserer Schule.“, springt ihm Olaf bei.
Ich werfe Robert einen fragenden Blick zu, doch der zuckt nur ahnungslos mit den Schultern.
„Diversifizierung?“, fragt Frau Kästner mit hochgezogener Augenbraue.
„Ihre Worte!“, entgegnet Olaf mit Unschuldsmiene und erhobenen Händen. „Sie haben vor den Ferien selbst gesagt, dass das Angebot zu einseitig im sportlichen Bereich liege und wir als Schulgemeinschaft auch die schöngeistigen Künste zwecks Diversifizierung stärker in den Blick nehmen müssen.“
„Schöngeistige Künste.“, wiederholt unsere Pionierleiterin mit einem sarkastischen Unterton. „Und was genau hat das jetzt mit euch zu tun?“
Diese Frage sollte uns eigentlich empören, aber insgeheim muss ich ihr Recht geben. Mit schöngeistigen Künsten hat keiner von uns etwas am Hut, es sei denn, man rechnet die Briefmarkensammlung unter Olafs Bett in diesen Bereich.
„Wir möchten eine AG Popmusik gründen.“, wagt sich Sirko vor.
Die beiden haben sich gut abgesprochen. Wenn Barbara Kästner einem von uns einen Wunsch erfüllen würde, dann am ehesten dem Musterschüler Sirko.
„Und was genau soll dort stattfinden?“, fragt die Pionierleiterin skeptisch und runzelt die Stirn.
„Wir wollen eine Band gründen und Musik machen.“, greift Olaf die Frage freudig auf und versprüht einen Tatendrang, den man ihm bei seiner Leibesfülle gar nicht zutraut.
Auch auf Barbara Kästner scheint dieser Enthusiasmus überraschenderweise abzufärben. Ihre Stirn glättet sich und sie scheint unseren Vorschlag ernsthaft abzuwägen.
„Spielt ihr denn überhaupt Instrumente?“, fragt sie plötzlich und es klingt in meinen Ohren wie ein Strohhalm, an den sie sich klammert, um möglicherweise doch einen Grund zu haben, unser Anliegen abzulehnen.
„Tilo und Sirko können Gitarre spielen.“, ruft Olaf wie aus der Pistole geschossen. Offenbar hat er diese Frage schon erwartet. Barbara Kästner mustert mich mit kaltem Blick. „Und ich war Trommler im Fanfarenzug.“, ruft ihr unser dicker Freund in Erinnerung.
„Das stimmt.“, erwidert die Pionierleiterin mit einem Lächeln. „Daran kann ich mich noch gut erinnern. Und wie soll eure Band heißen?“, fragt sie gar nicht mal so unfreundlich.
„Mars.“, ruft Sirko, bevor noch jemandem von uns irgendein Blödsinn einfallen kann.
„Mars?“, fragen Frau Kästner und Robert gleichermaßen irritiert wie aus einem Mund.
Sirko nickt eifrig. „Es ist als Kampfansage an den amerikanischen Expansionismus gedacht, der weit über die Erde hinausreicht und in der Vereinnahmung des Weltalls gipfeln soll.“
„Sie waren vielleicht zuerst auf dem Mond, aber den Mars schnappen sie uns nicht weg.“, unterstützt ihn Olaf kämpferisch.
Nach einer kurzen Bedenkpause fällt Barbara Kästner ihr abschließendes Urteil. „Ich finde den Namen gut gewählt. Also gut. Wir werden die AG Popmusik einrichten. Für die Proben könnt ihr den Musikraum nutzen. Aber ich habe zwei Bedingungen!“ Sie hebt ihre rechte Hand und präsentiert uns Zeige- und Mittelfinger.
„Erstens.“, jetzt biegt sie den Mittelfinger herunter, „werdet ihr den Raum und die Instrumente pfleglich behandeln.“
Wir nicken unisono. „Das ist doch selbstverständlich.“, stimmt ihr Robert in jovialem Tonfall zu.
Frau Kästner bedenkt ihn mit einem abschätzigen Blick, dann klappt sie auch den Zeigefinger ein. „Und zweitens werdet ihr euch an die Unterhaltungsmusikvorgaben in unserer Republik halten: Maximal 40 Prozent nichtsozialistische Musik.“, ermahnt sie uns mit erhobenem Zeigefinger.
Wir nicken artig und schauen uns zweifelnd an. „Am schönsten wäre es natürlich, Sie hätten bis zur Weihnachtsfeier auch ein paar eigene Lieder auf Lager.“
„Mars?“, bricht es aus Robert heraus, als wir im leeren Schulflur stehen.
„Ja, und?“, fragt Sirko seelenruhig.
„Was ist denn das für ein Scheißbandname?“, regt sich Robert auf.
„Wieso? Er ist perfekt!“, springt Olaf Sirko zur Seite.
„Kampf um den Weltraum.“ Robert tippt sich mit dem Finger gegen die Stirn. „Was blöderes ist euch wohl nicht eingefallen?“
„Entspann dich mal!“, fällt ihm Sirko ins Wort. „Sie hat es doch geschluckt, oder?“
„Toll!“, erwidert Robert zynisch. „Sollen wir dann Weltraummetal spielen?“
„Jetzt denk doch mal nach, Klatsche!“ Immer, wenn Olaf unsere Spitznamen benutzt, ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass er langsam böse wird. „Den Namen gibt es im Deutschen und im Englischen. Hier ecken wir damit nirgends an und wenn wir mal Fans auf der ganzen Welt haben, müssen wir uns nicht umbenennen.“
„Und Mars war der Kriegsgott der alten Römer.“, legt Sirko nach. „Wenn das mal kein geiler Name für eine Heavy Metal-Band ist, weiß ich auch nicht mehr.“
Robert brummt etwas Unverständliches, aber ich spüre, dass sein Widerstand bröckelt. Das Kriegsgottargument hat auch mich restlos überzeugt. „Und was soll dieser Scheiß mit der Weihnachtsfeier? Wir wollen doch nicht ernsthaft auf einer FDJ-Fete unser erstes Konzert geben, oder?“, nörgelt er weiter herum.
„Wer A sagt, muss auch B sagen.“, kalauere ich ihm ins Ohr. „Am besten, du lernst mal ganz schnell Bass spielen.“, gebe ich ihm einen freundschaftlichen