„Ja, und?“, knurrt Robert unwirsch. „Wie soll uns das helfen?“
„Er hat meinem Vater mal in einer schwachen korngeschwängerten Stunde gebeichtet, dass er hin und wieder heimlich eines dieser Instrumente zur Seite packt und schwarz verkauft.“, flüstert Olaf ehrfürchtig. „Ich hab so getan, als wäre ich auf dem Sofa eingeschlafen, konnte aber alles ganz genau hören. Die Instrumente sind viel billiger, als die in den Spezialgeschäften in Leipzig oder Berlin.“
„Die können wir uns bestimmt trotzdem nicht leisten.“, winkt Robert skeptisch ab.
„Woher willst du das wissen?“, schmollt Olaf. „Ich kann ihn ja wenigstens mal fragen.“
„Und dann kriegt er mit, dass du ihn belauscht hast und redet nie wieder mit dir.“, fährt ihn Robert an.
„Da könntest du recht haben.“, stimmt Sirko Robert zu und erntet einen bösen Blick von Olaf. „Aber Olafs Geschichte bringt mich auf eine andere Idee. Wie wäre es, wenn wir die Abteilung deines Onkels bitten, unsere Patenbrigade zu werden. Wir suchen doch sowieso eine neue.“, schlägt er vor.
„Eine Patenbrigade aus Markneukirchen?“, frage ich ungläubig und ziehe die Augenbrauen hoch.
„Warum nicht?“ Robert findet die Idee offenbar gut. „Es gibt auch eine Klasse, die hat eine Patenbrigade bei der Wismut. Das ist auch ein ganzes Stück vom Erzgebirge bis hierher.“
„Und so oft kommen die ja sowieso nicht zu Besuch. Das wäre doch ein toller Klassenausflug.“, zeigt sich auch Olaf von der Idee angetan.
„Hier in Karl-Marx-Stadt finden wir sowieso keinen mehr, der uns nimmt.“, spinnt Robert den Faden weiter. „Nachdem Kalle den halben VEB Union mit dem Feuerlöscher unter Wasser gesetzt hat, sind wir bestimmt unten durch.“
Bei der Erinnerung an unseren letzten Besuch im Betrieb der Patenbrigade brechen wir alle in Lachen aus. Kalle war eigentlich nur unglücklich gestolpert und hatte versucht, sich an dem ersten stabilen Gegenstand, der ihm unter die Finger kam, festzuhalten. Unglücklicherweise war das ein Feuerlöscher gewesen, dessen Sicherungsmechanismus nicht mehr der jüngste war. Im Handumdrehen hatte sich unter dem Druck des Löschmittels der Schlauch gelöst und war lustig in der Gegend herumgesprungen. Die halbe Klasse und mehrere Arbeiter der Patenbrigade waren völlig durchnässt worden, bevor es uns gelungen war, den Schlauch in den Griff zu bekommen. Daraufhin hatten uns die Maschinenbauer die Patenschaft kurzerhand aufgekündigt und wir waren vom Werksgelände geflogen.
„Und als kleines Patengeschenk könnten wir uns doch Gitarren wünschen. Solche, die ohnehin aus der Qualitätskontrolle gefallen sind.“, fährt Sirko fort, als wir uns wieder eingekriegt haben.
„Das könnte alle unsere Probleme lösen.“, stimmt ihm Robert begeistert zu. Und dein Vater könnte uns helfen, wenn etwas zu reparieren ist. „Kannst du deinen Onkel anrufen?“, wendet er sich an Olaf.
Der schüttelt entschuldigend den Kopf. „Mein Onkel hat kein Telefon.“
„Dann machen wir es über Frau Kästner.“, schlägt Sirko vor.
„Meinst du, die hält das für eine gute Idee?“, fragt Robert skeptisch.
„Lass mich mal machen.“, antwortet Sirko selbstbewusst.
„Und bis dahin?“, lege ich den Finger in die aktuelle Wunde. „Üben wir mit denen da?“ Ich deute abschätzig auf die halb kaputten Gitarren der Schule.
„Heute üben wir erstmal an unserem Stil, und nächstes Mal schauen wir weiter.“, gibt Robert die Marschrichtung vor und kramt in seinem Rucksack herum. Er fördert einen Kassettenrekorder hervor und stellt ihn mit spitzen Fingern auf den Tisch neben dem Klavier. „Mein KR 1. Und ich habe die Kassette aus dem Auto mitgebracht. Die Lieder kennt ihr jetzt ja.“
„Und wir machen jetzt was genau damit?“, stottert Sirko verwirrt herum.
„Luftgitarre spielen.“, ruft Robert begeistert und schüttelt seine Haare, die der Länge nach zu urteilen bestimmt schon seit einem halben Jahr keinem Friseur mehr unter die Finger gekommen sind.
Wir gucken ihn an wie Buschmänner, denen jemand vorschlägt, mit einem Hubschrauber nach Moskau zu fliegen.
„Leute, was habt ihr in eurem Leben eigentlich bisher gelernt?“, zieht Robert uns genervt auf und drückt die Abspieltaste an seinem Rekorder. „Passt auf, ich zeig's euch.“
Oktober 1988
Manne gegen Gewalt – Biest
Gelangweilt hänge ich auf meinem Stuhl und tue so, als würde ich konzentriert den Text in unserem Staatsbürgerkundebuch lesen. Barbara Kästner, die mangels Alternative im Lehrkörper immer noch die Vertretung des Faches übernommen hat, ist weiter hinten in eine angeregt Diskussion mit Liane Schulze und Franziska Lößnig verstrickt und hat gerade keine Augen für ihre Lümmel von der ersten Bank, wie sie uns inzwischen bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit mit einem süffisanten Lächeln nennt. Das Prasseln des Regens gegen die Fensterscheiben macht es mir nicht leichter, mich auf die schwülstigen Sätze, die wir durcharbeiten sollen, zu konzentrieren.
Ich mache mir ein paar Stichpunkte, in die ich die üblichen Worthülsen wie „revolutionärer Weltprozess“, „Beitrag zum weiteren Fortschreiten des Sozialismus in der Welt“, „geschichtliche Notwendigkeit der Überwindung des kapitalistischen Imperialismus“ und – mein absoluter Favorit – „notwendiger Führungsanspruch der marxistisch-leninistischen Partei zur Befähigung der Arbeiterklasse für die herangereiften Aufgaben“ einbaue. Seit ich in der 8. Klasse erkannt habe, dass dem Lehrer, wenn man diese Phrasen in einer Arbeit verwendet, keine andere Möglichkeit bleibt, als diese mit einer 1 zu benoten, nutze ich sie bei jeder sich mir bietenden Gelegenheit und gelte deshalb bei den Lehrern als einer der Klassenbesten in diesem Fach. Meine Mitschüler nennen meine Sprache dagegen hinter vorgehaltener Hand abgehobenes Geschleime, aber da spricht doch nur der Neid. Mit vagem Interesse nehme ich zur Kenntnis, dass diese Begriffe offenbar nicht nur bei Themen rund um unser Vaterland, die DDR, Gültigkeit besitzen, sondern auch bei Diskussionen um die Entwicklung Afrikas, die wir seit mehreren Wochen aus unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachten.
Robert stupst mich von der Seite an. Ich drehe meinen Kopf und sehe, dass er unter seinem Buch den Zettel liegen hat, den ich ihm vor der Stunde noch schnell zugeschoben habe. Ich bin nicht wenig stolz auf den ersten eigenen Songtext, den ich geschrieben habe, und da Robert unser anerkannter Experte auf dem Gebiet des Heavy Metal ist, habe ich ihn als Erstleser auserkoren.
„Bist du wahnsinnig?“, raunt er mir zu und verdreht die Augen wie eine irre gewordene Kuh.
„Wieso?“, flüstere ich zurück. „Gefällt‘s dir nicht?“ Ich versuche, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
„Willst du, dass sie uns gleich einkassieren?“, brummt Robert. „Damit kannst du nicht nur eine Spielerlaubnis vergessen, da können wir uns auch gleich auf ein paar Jahre Bautzen einstellen.“
Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als ich an die Gerüchte denke, die über das berüchtigtste Gefängnis der DDR kursieren. Klar habe ich auch ein bisschen provoziert, es soll ja schließlich Rockmusik sein, aber ein Protestsong ist es jetzt auch nicht gleich geworden. „Wir spielen doch erstmal nur für uns. Muss ja keiner hören.“, versuche ich, Robert milde zu stimmen.
„Und du meinst, wir können den anderen trauen?“, fragt er mit hochgezogener Augenbraue.
„Ich denke schon.“, druckse ich herum.
„Zu 100 Prozent?“, lässt er nicht locker.
Ich schaue kurz zu Sirko und Olaf hinüber, die über den anstehenden Oberligaspieltag diskutieren.
„Glaub schon.“, sage ich kleinlaut.
„Glauben reicht nicht.“, zischt Robert. „Und merk dir einwas. In unserem Geschäft darfst du niemandem trauen! Niemals!“
„Robert!