„Was ist denn das für ein Aufruhr?“, höre ich eine Frauenstimme in dem Versuch, das aufgeregte Geschnatter der Schüler zu übertönen, kreischen.
„Frau Sauer wie sie leibt und lebt.“, kommentiert Sirko, der mir unbemerkt gefolgt sein musste, in meinem Rücken.
„Alle auf den Schulhof, wenn ich bitten darf! Die Straße ist für den Verkehr da, ihr habt hier nichts zu suchen!“
Verstohlen blicke ich zurück zu der Traube um Falks Motorrad, die sich schlagartig auflöst und ihn mit seinem Helm unterm Arm allein zurücklässt. Er wirkt leicht verloren in diesem Moment. Irgendwie gönne ich ihm diese Niederlage, auch wenn Frau Sauers Begründung völlig an den Haaren herbeigezogen ist. Weit und breit ist kein Auto zu sehen und mit Ausnahme von zwei oder drei Mitgliedern des Lehrkörpers werden in der nächsten Stunde auch kaum Leute ihre Pappkisten hier entlang steuern.
Wir betreten den Schulhof und augenblicklich bleibe ich wie angewurzelt stehen, so dass Sirko keine Chance mehr zum Ausweichen hat und mir voll in den Rücken rennt. Ich habe kein Ohr für seine Flüche, keine Augen für die an mir vorbeidrängenden Siebtklässler und kein Gefühl mehr für Raum und Zeit. Wie vom Donner gerührt stehe ich einfach nur da und starre sie an. Jana Gebauer, Parallelklässlerin, also wie wir im 10. Jahrgang, Schwarm aller Jungen und seit drei Jahren das Objekt meiner jugendlich leidenschaftlichen Begierde. Ihre blauen Augen schweifen königinnengleich über die sie umwogende Menge, die roten, gelockten Haare fallen elegant über ihre Schultern und bilden einen perfekten Kontrast zu der blauen Bluse, die sie eng über ihre bereits gut ausgebildeten Brüste geknöpft hat. Es gibt das Gerücht, dass sie die FDJ-Bluse extra enger genäht habe, um ihre Oberweite besser zur Geltung kommen zu lassen, aber das ist mir völlig egal.
„Herrje.“, entfährt es Sirko bei Janas Anblick. Er ist einer der wenigen, denen ich meine Schwärmerei gebeichtet habe.
„Sie ist über die Ferien noch schöner geworden.“, stammle ich verzückt.
„Mach den Mund wieder zu. Am Ende sabberst du noch dein Hemd voll.“, blödelt mir Roberts Stimme ins Ohr und ich spüre, wie ein Zeigefinger sanft meinen Unterkiefer zurück in die Horizontale schiebt.
„Guck mal! Jetzt schaut sie hier rüber.“, flüstert Sirko und dreht sich schnell weg, um den Haupteingang zur Schule einer intensiven Musterung zu unterziehen.
„Ja, Mann. Sie hat eindeutig Interesse.“, gibt auch Robert seinen Senf dazu. „Jetzt geh doch mal rüber und quatsch sie an!“
„So ein Blödsinn.“, tue ich sein Ansinnen mit einer energischen Handbewegung ab. Ich spüre, wie mir bei dem bloßen Gedanken, hinüberzugehen und Jana Gebauer ein unschuldiges Hallo entgegenzuhauchen, die Knie weich werden. Mir wird ganz flau im Magen. Ich glaube, ich muss gleich kotzen. „Bei der hab ich doch sowieso keine Chance.“, stelle ich nüchtern und erstaunlich rational fest. „Was will die denn mit einem wie mir?“
Wie um meine Aussage zu bestätigen, tritt in diesem Augenblick Falk in unser Blickfeld und bewegt sich, die Arme weit auseinander gerissen, zielsicher auf Jana zu. Küsschen rechts, Küsschen links, ein neckischen Lachen entschlüpft ihrer goldigen Kehle.
„Und was will sie mit einem Typ wie dem?“, regt sich Robert auf. Ich bin mir nicht sicher, ob seine Sorge mir im Speziellen oder der Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen gilt.
„Ja, keine Ahnung!“, antworte ich achselzuckend. „Irgendwas wird sie schon wollen.“
„Wenn du auch so eine Maschine hättest...“, hebt Sirko an und lässt den zweiten Teil der Aussage wie ein verhungerndes Tier in der Luft hängen.
„Hab ich aber nicht!“, knurre ich aus dem Mundwinkel.
Inzwischen hat sich Falk von Jana gelöst und flaniert über den Schulhof wie der Staatsratsvorsitzende durch einen seiner volkseigenen Betriebe. Wie zufällig führt ihn sein Weg durch die Schülerschar immer weiter in unsere Richtung. Obwohl ich vorgewarnt sein sollte, bin ich ehrlich erschrocken, als er plötzlich nach links schwenkt und mir seinen Ellbogen im Vorbeigehen voll in den Bauch rammt. „Pass doch auf, Reichel, du alter Trottel!“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht reibt er sich den Ellbogen und baut sich drohend vor mir auf.
Eine Schar Acht- und Neuntklässlerinnen, die ihrem angebeteten Idol auffällig unauffällig gefolgt sind, wirft mir giftige Blicke zu. Es wirkt wirklich gruselig. Ich frage mich, ob sie das jeden Abend vor dem Spiegel üben.
„Pass doch selber auf, du eingebildeter Affe!“, geht ihn Robert an.
„Lass gut sein!“, versuche ich ihn zu beschwichtigen.
„Lass gut sein?“, schreit Robert, so dass es der ganze Schulhof hören kann. „Von so jungem Gemüse lasse ich mich doch nicht dumm anmachen!“
„Ach ja, der Sitzenbleiber muss das Muttisöhnchen beschützen.“, macht sich Falk über uns lustig.
Die dummen Hühner in seinem Gefolge kichern albern um die Wette.
„Du machst dich besser ganz dünn, wenn ich komme!“, warnt Falk mich laut genug, dass die Umstehenden ihn verstehen können. „Dieser Schulhof ist nicht groß genug für uns beide.“
Er hebt seine Augenbraue, zwinkert Sirko verschmitzt zu und befühlt im nächsten Augenblick mit schmerzerfülltem Gesicht seinen Ellbogen. Noch einmal treffen mich tausende vernichtende Blicke aus den Augen der Mädchen, dann zieht die ganze Schar ins Schulhaus ab.
Auch wir folgen den blau- und weißbehemdeten Jungen und Mädchen in das Schulhaus, um zu unserer Klasse zu gelangen.
„Noch ein ganzes Jahr halte ich diesen Lackaffen nicht aus.“, stöhne ich.
„Sitzenbleiber!“, brummt Robert missmutig. „Das war in der zweiten Klasse. Und nur, weil ich lange krank war.“, beschwert er sich bei uns. „Und was kann ich denn dafür, dass ich erst ein Jahr später eingeschult wurde?“
„Nichts.“, beschwichtigt ihn Sirko. „Aber du weißt doch, wie er ist. Immer die große Fresse mit seinem aalglatten Gesicht und den im Wind wehenden Haaren.“ Geckenhaft schüttelt er in einer perfekten Nachahmung unseres Schulschönlings den Kopf.
„Und die blöden Weiber hecheln ihm alle nach. Als ob ich ihm mit meinem Bauch den Ellbogen brechen könnte.“, meckere ich mit.
„Stahlharter Waschbrettbauch, was?“, witzelt Robert.
„Na, hecken die Herren schon wieder Flausen aus?“, unterbricht uns die Stimme von Barbara Kästner in unserem Rücken.
„Wir doch nicht, Frau Pionierleiterin.“, entfährt es Sirko wie aus der Pistole geschossen. Sein Tonfall ist für meinen Geschmack etwas zu kriecherisch, aber Frau Kästner scheint er zu gefallen.
„Sie meinte ich doch auch nicht, Sirko.“, flötet sie ihm zu. „Bei Ihnen bin ich mir sicher, dass Sie eine ausgezeichnete Laufbahn im Dienste unseres sozialistischen Vaterlandes vor sich haben.“ Dann wendet sie ihre stechend blauen Augen Robert und mir zu. „Bei Euch beiden bin ich mir da nicht so sicher. Denkt daran, ihr seid auf Bewährung, alle beide. Keine weiteren Fehltritte!“ Sie droht uns unter Einsatz einer ernsten Mimik mit dem Zeigefinger und lässt uns dann verdattert stehen.
„Na, das fängt ja gut an!“, murmle ich.
Roberts Antwort wird von der Klingel übertönt, die jetzt durch das Schulhaus schallt. Wir spurten um die Wette, um möglichst noch vor unserer Lehrerin im Klassenraum zu sein.
Die besten Plätze sind schon weg. Der Schnösel Falk und Frau Kästner haben uns lange genug aufgehalten, so dass wir nun in der vorderen Bankreihe Platz nehmen müssen. Ich fange einen hämischen Blick von Alex auf, mit dem ich mir sonst immer ein Wettrennen um den Sitz ganz hinten am Fenster geliefert habe. Genüsslich lümmelt