„Wegen der Überwachung.“, knurrt Robert und fixiert weiter mit starrem Blick die Autobahn vor sich.
„Überwachung?“, hakt Olaf nach.
„Klar.“, gibt Robert seinen Versuch, das Thema auszusitzen, genervt auf. „Heavy Metal ist keine von den staatlichen Kulturorganen anerkannte Kunstform. Deshalb werden Besucher der Konzerte überwacht. Und das betrifft auch die Anreisewege. Darum sind wir schon nach Gera gefahren, als noch keiner damit rechnen konnte.“
„Aber auf dem Konzert hat man uns doch trotzdem überwacht?“, vergewissert sich Sirko verwirrt.
„Klar, aber da konnten sie nicht nachvollziehen, wo wir herkommen. Weil sie uns bei der Anreise ja noch nicht registriert hatten.“, kontert Robert lachend.
„Und bei der Abreise?“, führe ich Sirkos Gedankengang besorgt weiter.
Robert zuckt ergeben die Schultern. „Sie können ja nicht alle Konzertbesucher überwachen. Wenn wir Glück hatten, sind wir in der Menge, die das Clubhaus verlassen hat, nicht weiter aufgefallen.“
„Drei Leute, die einen vierten durch die Gegend tragen?“, gibt Olaf zu bedenken.
„Das war in der Tat bescheuert, Tilo.“, räumt Robert eine Schwachstelle in seinem Plan ein. „Naja, egal. Irgendwann hätten sie uns sowieso auf dem Radar gehabt.“
„Auf dem Radar?“, japst Olaf. „Weil wir auf einem Konzert waren?“
„Genau.“, bestätigt Robert erstaunlich gelassen seine Befürchtungen. „Aber das war nicht irgendein Konzert.“ Er nimmt eine Hand vom Lenkrad und hebt den Zeigefinger. „Das war ein Blitzz-Konzert.“
Sirkos „Jaaaaa?“ hängt eine Zeitlang in der Luft, bis sich Robert zu einer Erklärung bemüßigt fühlt.
„Sie sind die Speerspitze des Metal in der DDR. Die haben sogar schon in Berlin in der Seelenbinderhalle gespielt.“
Jetzt bin ich doch beeindruckt. Nicht, dass ich jemals in Berlin gewesen wäre oder mir eine klare Vorstellungen von den Ausmaßen der Seelenbinderhalle machen könnte, doch allein der Name klingt ergreifend.
„Wo hast du eigentlich die Mukke her?“, fragt Sirko und klopft auf den Kassettenrekorder, aus dem mir unbekannte Lieder dröhnen, die ähnlich wie die klingen, die auf dem Konzert gespielt wurden.
„Tapetrading.“, wirft Robert einen weiteren mir unbekannten Fachbegriff in den Innenraum des Trabant.
„Aha!“, entfährt es Olaf bewusst tonlos.
Robert seufzt ergeben. „Du hast eine Kassette mit Metal-Musik. Die überspielst du ein paarmal auf leere Kassetten und nimmst sie mit zu einem Treffpunkt, zu dem andere Leute Kassetten mit anderer Musik mitbringen. Dann tauschst du die Kassetten und hast neue Musik.“
„Das heißt, du musst eigentlich nur eine Kassette haben, auf der etwas neues drauf ist, und dann kannst du dir eine ganze Sammlung durch Tauschen aufbauen?“, bohrt Sirko, unser Superhirn, nach.
„So in etwa.“, stimmt ihm Robert zu. „Aber besonders begehrt sind natürlich immer die neuesten LPs aus dem Westen.“
„Ich will so was auch.“, rufe ich.
Sirko und Olaf drehen sich zu mir um und schauen mich verwundert an, doch Robert grunzt nur zustimmend. „War mir klar. So ein Konzert ist wie eine Droge.“
„Keine Ahnung.“, muss ich meine Unkenntnis auf diesem Gebiet einräumen. „Aber es war so geil.“
„Machst du sowas öfter?“, will Olaf von Robert wissen.
„Bisher ging es ja nur, wenn mich jemand mitgenommen hat oder ich mit der Schwalbe hingekommen bin. Aber jetzt,“ er klopft liebevoll auf das Armaturenbrett seines Trabant, „bin ich ja beweglich.“
„Dann kannst du das jetzt jedes Wochenende haben?“, hake ich, vom Konzertfieber gepackt, nach.
„Klar!“, bestätigt er mit einem wohligen Schnurren in der Stimme.
„Ich will das auch!“, wiederhole ich meinen Gefühlsausbruch. „Ich will das öfter! Ständig! Immer!“
Ich kann Roberts Grinsen im Spiegel sehen.
„Kannst du haben. Vielleicht nicht immer, aber ich mache dir eine Kassette zurecht.“
„Und die Konzerte?“, fragt Olaf, der durch mein Interesse angefeuert zu sein scheint.
„Gibt es so oft es geht.“, verspricht Robert und biegt von der Autobahn ab.
„Und zwischendurch?“, frage ich.
„Hast du doch die Kassetten.“, ruft mir Sirko in Erinnerung.
„Wisst ihr was?“, fragt Olaf aufgeregt.
Wissen wir natürlich nicht, deshalb antworten wir ihm mit erwartungsfrohem Schweigen.
„Warum gründen wir nicht eine Band?“
Wir schweigen immer noch, diesmal aber eher nachdenklich.
„Kann überhaupt jemand ein Instrument?“, erwidert Robert skeptisch.
„Tilo kann Gitarre.“, ruft ihm Olaf in Erinnerung. „Und Sirko auch ein bisschen. Naja, und ich hab doch im Fanfarenzug mal getrommelt.“, fügt er etwas kleinlaut hinzu. „Das krieg ich bestimmt hin.“
Wider Erwarten ist Robert, der sonst bei unseren Vorschlägen immer ein Haar in der Suppe findet, einverstanden. „Gut, dann lerne ich eben Bass spielen. Kann ja nicht so schwer sein.“
„Du kannst übrigens die Leipziger Straße durchfahren und dann rüber ins Heckertgebiet.“, unterbreche ich unsere Zukunftsplanung für einen kurzen Verkehrshinweis.
„Wo willst du denn hin?“, fragt Robert verwundert.
„Wir sind heute umgezogen.“, tue ich ein Geheimnis kund, von dem ich auch erst vor ein paar Tagen erfahren habe.
„Ihr seid umgezogen und du warst nicht dabei?“, fasst Olaf die Situation zusammen. „Das ist stark.“
„Wohin?“, will Sirko wissen.
„Baugebiet 8.“, gebe ich eine nähere Lagebeschreibung.
„Das alte Dreckloch.“, kommentiert Robert fachmännisch.
„Sag mal, wechselst du dann die Schule?“, fragt Sirko besorgt.
„Ach Quatsch!“, gebe ich mich locker, obwohl diese Sorge mich auch umtreibt, seit ich von dem Umzug ans andere Ende der Stadt erfahren habe. „Nicht in der zehnten Klasse.“
„Bevor die im Schulamt mitbekommen haben, dass ihr umgezogen seid, ist sowieso Winter. Da brauchst du dir keine Sorgen machen.“, versucht Olaf, uns zu beruhigen. Er muss es wissen. Sein Vater arbeitet bei der Stadtverwaltung.
September 1988
I wanna be somebody – W.A.S.P.
„Tilo!“ Wenn das Hämmern an meiner Tür mich nicht ohnehin schon wach gemacht hätte, die durchdringende Stimme meiner Mutter hätte es sogar geschafft, mich aus dem Reich der Toten zurück auf die Erde zu befördern. „Steh endlich auf! Du kommst zu spät zur Schule.“
„Jahaaa!“, rufe ich zurück und schäle mich aus dem Bett. Verdammt müde schaue ich auf den Wecker, der auf einem kleinen selbstgezimmerten Regal über dem Kopfende steht. Dreiviertel fünf, eindeutig zu früh, um schon irgendwelche klaren Gedanken zu fassen.
Schnell bin ich in die Jeans und das T-Shirt geschlüpft, dann schlurfe ich den Gang Richtung Küche entlang.
„Na, du Penner!“, werde ich von meinem kleinen Bruder