„Sven, jetzt lass deinen Bruder doch erst einmal frühstücken!“, mischt sich meine Mutter in unser Gespräch ein, bevor es zu einem Streit ausarten kann – so, wie sie es bereits seit 14 Jahren jeden Morgen tut. „So kann er sich wenigstens nicht vollkleckern.“ Mit einem zufriedenen Lächeln tätschelt sie mir die Wange. Als wäre ich ein Kindergartenkind, geht es mir durch den Kopf, aber ich sage wohlweislich nichts.
„Ist vielleicht auch besser so.“, blödelt Sven mich an.
„Halt's Maul!“, gehe ich ihn an. „Nur weil du jetzt 14 und in der FDJ bist, musst du keine große Lippe riskieren.“
„Tilo! Wie redest du denn?“, echauffiert sich meine Mutter.
„Morgen allerseits!“ Mein Vater trudelt in die Küche. Mit Genugtuung stelle ich fest, dass er mindestens so unausgeschlafen zu sein scheint wie ich. „Na, alle gut geschlafen?“, fragt er in die Runde, ohne eine Antwort abzuwarten. Er schmiert sich das obligatorische Marmeladenschwarzbrot und schaut versonnen zum Fenster hinaus.
Meine Mutter stellt sich neben ihn und folgt seiner Blickrichtung. „Es ist wirklich ein Glück, dass wir diese Wohnung gefunden haben.“, seufzt sie. Mein Vater legt einen Arm um ihre Hüfte und drückt sie an sich.
Sven und ich gucken aus dem Fenster auf die dreckig grau-braune Fassade des gegenüberliegenden Neubaublocks. Der größtenteils betonierte Zwischenraum zwischen beiden Gebäuden nennt sich Straße, Bäume und anderes Grün sind nur sporadisch an strategisch wichtigen Punkten platziert worden. Sie sollen wohl für ein angenehmes Wohnklima im Baugebiet sorgen, ohne dabei allzu große Kosten zu verursachen.
„Ich find's doof.“, beschwert sich Sven. „Warum konnten wir denn nicht in der Luisenstraße bleiben?“
„Weil das Haus baufällig war, wie alle Altbauten hier.“, knurrt unser Vater.
Meine Mutter wirft einen ängstlichen Blick zur Decke. „Reinhart, nicht so laut!“, flüstert sie aufgeregt.
„Ist doch wahr. Hier tropft es wenigstens nicht von der Decke, wenn es mal regnet.“, brummt mein Vater missmutig. „Außerdem müssen wir keine Kohlen mehr schleppen, es gibt eine Badewanne und das Klo liegt auch nicht eine halbe Treppe tiefer.“, zählt er uns weitere Vorteile unserer modernen 4-Zimmer-Plattenbauwohnung auf.
„Und ihr habt endlich jeder ein eigenes Zimmer.“, flötet meine Mutter.
„Da hat sie recht.“, muss ich ihr zugestehen und grinse Sven schief an.
„Trotzdem!“, beharrt er auf seiner Ablehnung. „Wie sollen wir denn jetzt zur Schule kommen?“
„Gehst du denn nicht hier auf die neue Schule?“, frage ich verwundert nach.
„Ach, dazu hatten wir noch keine Zeit. Das mit der Wohnung ging ja von jetzt auf gleich. Das haben wir sowieso nur eurer Mutter zu verdanken. Die hat beim Rat des Bezirkes ein paar Beziehungen spielen lassen.“, brummelt mein Vater weiter vor sich hin.
„Wenn ich schon dort arbeite, kann ich mich ja auch mal für meine Familie einsetzen.“, trällert meine Mutter fröhlich vor sich hin. Ihre gute Laune ist mir irgendwie suspekt.
„Ich will gar nicht wissen, mit wem eure Mutter ins Bett steigen musste, um das hier möglich zu machen.“, ruft mein Vater plötzlich gut gelaunt. Er klopft sich auf die Schenkel und muss so laut über seinen eigenen Witz lachen, dass er gar nicht mitbekommt, wie Sven und ich peinlich berührt an die Decke starren und vor Scham krebsrot im Gesicht werden.
Meine Mutter verschluckt sich am Kaffee und hustet nun gegen Vaters Lachanfall an.
„Tilo wird das letzte Jahr sowieso noch auf der alten Schule bleiben.“, wechselt sie glücklicherweise das Thema, als sie wieder bei Atem ist. „Und so lange, bis wir dich umgemeldet haben,“, wendet sie sich an Sven, „fahrt ihr erstmal zusammen zur Schule.“
„Ich brauch doch keinen Aufpasser!“, stöhnt mein kleiner Bruder genervt.
„Nein, aber einen Chauffeur.“, witzelt mein Vater.
Jetzt ist es an mir, genervt zu sein. „Chauffeur? Soll ich eine Straßenbahn kapern, oder was?“
„Wäre mir das eher eingefallen, hätten wir eine Menge Geld sparen können, Ingrid.“, ruft mein Vater und schlägt sich theatralisch mit der Hand vor die Stirn.
„Los, jetzt gib's ihm schon! Die beiden müssen los.“, raunt Mutter ihm aufgekratzt zu.
Umständlich kramt unser Vater in der Hosentasche, dann zieht er einen Bund mit zwei kleinen Schlüsseln hervor. „Da haben wir sie ja.“ Mit feierlicher Miene reicht er die Schlüssel über den Tisch zu mir herüber. „Da, die sind für dich!“, sagt er und beißt wieder in sein Brot, so als sei damit alles gesagt.
Verdattert glotze ich Sven an, der aber nur blöd zurückguckt. Die Schlüssel in meiner Hand gehören eindeutig zu einer Simson, nur was ich damit soll, ist mir noch nicht klar. Hilfesuchend wende ich mich an unsere Mutter.
„Euer Vater hat eine alte Simson aufgetrieben und mit Onkel Udo wieder flott gemacht.“, erklärt Mutter uns mit leuchtenden Augen. „Sie steht draußen vor der Tür.“
„Wann hast du sie denn hergebracht?“, fragt Sven aufgeregt, während ich ans Fenster stürze, um nach unten zu lugen.
„Ihr seid schon ein paar Tage dran vorbeigelaufen.“, kichert mein Vater.
Da fällt mir die blaue Simson ein, die seit voriger Woche neben dem Hauseingang parkt und der ich schon so manchen sehnsüchtigen Blick zugeworfen habe.
„Hat nur drei Gänge, aber surrt wie ein Kätzchen.“, gibt sich mein Vater selbstgefällig.
„Komm!“, rufe ich meinem Bruder zu und stürze in den Flur. Sven folgt mir auf dem Fuß.
„Jungs! Wollt ihr nicht erst aufessen?“, tönt die Stimme unserer Mutter hinter uns.
Nein, wollen wir nicht. Wir schlüpfen in die Schuhe, schnappen unsere Lederranzen und sind schon fast zur Tür hinaus, als wir zurückgepfiffen werden. „Willst du dich nicht wenigstens bedanken, Tilo?“, kreischt es in meinen Ohren.
Betreten sehe ich ein, dass das wohl angebracht ist, und laufe noch einmal in die Küche. „Danke!“, brülle ich gehorsam und mache auf dem Absatz kehrt. Bereits auf der Treppe müssen wir noch einmal umkehren. „Die Helme!“, schallt es durchs ganze Haus.
Dann haben wir endlich alles beisammen und stürmen auf unser neues Beförderungsmittel zu.
„Die anderen werden Augen machen, wenn wir damit vorfahren.“, freut sich Sven.
Ich nicke nur würdevoll und betätige den Kickstarter.
Die anderen machen tatsächlich Augen, als wir an der Polytechnischen Oberschule Fritz Matschke vorfahren. Schade nur, dass uns ein anderer die Show gestohlen hat. Eine große Traube aus Schülern aller Jahrgänge hat sich um jemanden versammelt, der gerade selbstgefällig den Helm vom Kopf zieht und seine halblangen, dunkelblonden Haare theatralisch schüttelt. Klar, Falk wieder mal. Wir stellen die Simson neben das kleine Mäuerchen, das den Schulhof umgibt, und versuchen, einen verstohlenen Blick auf Falks Gefährt zu werfen, das alle bewundern.
„Eine ETZ 125.“, raunt Sven mir zu, als es ihm gelungen ist, das Objekt des allgemeinen Interesses zu entdecken. „Da kannst du mit deiner Simson nicht gegen anstinken.“, klärt er mich nüchtern auf.
Im Stillen bin ich sogar ein bisschen froh, dass niemand unsere Ankunft bemerkt zu haben scheint. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie peinlich es gewesen wäre, wenn wir fünf Minuten früher gekommen wären und uns für die Simson hätten feiern lassen, nur um dann mit ansehen zu müssen, wie der schöne Falk alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ich kann mir sein hämisches Grinsen, das ich geerntet hätte, bildlich vorstellen.