Der Gedanke an meinen Vater führte mir nicht zum ersten Mal vor Augen, ihm früher oder später den Verlust des Bootes beibringen zu müssen. Da spielte die Tatsache, ihm den Besitz einer fremden Karte angedichtet zu haben, nur eine untergeordnete Rolle. „Ja, tu das“, schloss ich und faltete das alte Pergament betont nebensächlich zusammen. Luke verfolgte jede meiner Bewegungen argwöhnisch, als behandelte ich das Objekt seiner Begierde nicht mit dem nötigen Respekt.
Wir marschierten den Rest des Tages schweigend weiter. Das unwegsame Gelände wollte sich nicht auf eine klare Linie festlegen lassen. Kontinuierlich ging es auf und ab – und auf und wieder ab. Wir orientierten uns so gut es ging am Stand der Sonne, die hier im Landesinneren deutlich an Stärke gewann. Alsbald schwitzte nicht nur ich wie ein Ochse. Die ungewohnte Anstrengung ging unerwartet schnell in die Knochen. Beladen mit sämtlichem Gepäck spürte ich zudem den ächzenden Rücken. Wie hatte ich mir das nur vorgestellt, auf diese Weise bis nach Hyperion zu laufen? Ich musste verrückt gewesen sein! Zu allem Überfluss fing mein ruheloser Geist an, mich auf ganz tückische Art zu quälen. Mit unheimlicher Regelmäßigkeit stellte er mir immer dieselbe Frage: War das alles, was du zu geben bereit warst? Mehrere Male hätte ich heulen mögen über meine innere Zerrissenheit.
Auf dem Rücken eines Höhenzuges machten wir Halt und nahmen eine Mahlzeit ein. Weit unter uns ruhte ein tiefes, dunkel bewaldetes Tal, das bis an den westlichen Horizont reichte. Ein vage erkennbarer Gebirgszug schien es dort zu begrenzen, es konnte sich aber auch um eine optische Täuschung handeln. Von hier oben sah jenes Tal atemberaubend schön und friedlich aus. Es stand aber auch fest, dort hindurch zu müssen. Ein Umstand, der weniger gut gefiel.
Krister deutete den Rand des Grats entlang, auf dem wir rasteten. „Wenn wir hier weitergehen, können wir das Tal vielleicht umrunden und müssen es nicht mühsam durchqueren“, meinte er, meine Gedanken zielsicher erratend.
„Womöglich“, zweifelte ich. Mir schmeckte die Tatsache nicht, zu diesem Zweck die entgegengesetzte Richtung einschlagen zu müssen. Der von Krister vorgeschlagene „Weg“ führte eindeutig zurück in Richtung Küste. Verflucht! Wenn wir Idioten das Boot nicht auf so kreuzdumme Weise verloren hätten, befänden wir uns aller Wahrscheinlichkeit nach schon kurz vor der Hyperion Bay. Ganz nahe am Ziel. Und wo waren wir stattdessen? Irgendwo in der tiefsten Wildnis Ergelads, dort wo ich niemals sein wollte. Ich hätte mich vor Wut über meine Unfähigkeit am liebsten selbst geohrfeigt.
„Dann machen wir das.“ Mein Widerstand bröckelte. „Ich verspüre wenig Lust, die Nacht in den Wäldern da unten zu verbringen. Dann schon lieber irgendwo in luftiger Höhe.“
Krister sah mich mit nur schwer zu interpretierendem Blick an. War es meine kritiklose Bereitwilligkeit gewesen, die Marschrichtung zu ändern? Suggerierte er mir indirekt, meine Entscheidung zu überdenken? Las er in meinen zwiespältigen Zügen wie in einem offenen Buch? Kurz darauf sollte sich der Verdacht bewahrheiten. Mein alter Freund wusste nur zu genau, auf welch tönernen Füßen mein Entschluss stand.
„Jack, ein Wort von dir und wir machen es“, bedeutete er mir bewusst zweideutig.
„Machen was?“ stieß ich hervor, noch nicht gänzlich bereit, aus der Deckung zu kommen.
Krister war noch nie ein Mann großer Worte gewesen. Und von großen Umschweifen hielt er noch viel weniger. Infolgedessen überraschte die schonungslos ehrliche Antwort nur wenig. „Einfach aufgeben ist doch Scheiße, Jack! Und du weißt das!“
Ich musste lächeln. Wie sehr ich ihn für seine zuweilen primitive Art liebte, die Dinge auf den Punkt zu bringen.
„Der Verlust des Bootes war ein schwerer Schlag, das gebe ich zu“, fuhr er fort. „Aber dies zum Anlass zu nehmen, alles hinzuschmeißen, halte ich für falsch. Luke sprach es gestern schon aus. Ich finde er hat Recht. Du solltest Robs Schicksal nicht von dem des dummen Kahns abhängig machen.“
Mein Blick wanderte zu dem Zitierten. Er stand reglos da, mich beschwichtigend ansehend. Ein winziges Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er sprach: „An mir liegt es mit Sicherheit nicht! Ich bin mehr als bereit, mit euch überall hinzugehen. Meinetwegen bis in die tiefsten Tiefen des Eisgebirges und wenn es sein muss, auch hindurch.“
In diesem befreienden Moment spürte ich, wie unsere noch junge Gemeinschaft gänzlich zusammenwuchs. Mein Herz glühte vor Freude. Ich war mächtig stolz auf Krister, meinen alten, unerschütterlichen Vertrauten – und natürlich auf Luke, einen neu gewonnen Freund. Konnte ich mir etwas Schöneres wünschen, als zwei treue Gefährten, die allen Widrigkeiten zum Trotz fest an meiner Seite standen? Nein. Es gab augenblicklich kein schöneres Gefühl auf dieser Welt.
Als wir den Weg nach Osten einschlugen, das dunkle tiefe Tal in unserem Rücken lassend, versicherte mir eine Stimme aus meinem unergründlichen Inneren, das Richtige zu tun.
08 SKELETTFLUSS
Die folgenden Tage führten mich an die Grenze der körperlichen Belastbarkeit. Wir wanderten von Sonnenaufgang bis in die Dämmerung und unterbrachen den Gewaltmarsch lediglich für die Nahrungsaufnahme. Unterwegs hieß es konstant Augen und Ohren offen halten. Jedes unvorsichtige Wildtier, das nicht schleunigst Reißaus nahm, stand auf dem Speisezettel. Mein Bogen kam mehrmals zum Einsatz, verfehlte aber zu oft seine Bestimmung, was ich weniger meiner Schießkunst als der hohen Aufmerksamkeit der anvisierten Ziele ankreidete. Die Viecher ließen uns keine Sekunde zu nahe heran.
Ich versuchte es trotzdem.
Der Pfeil verfehlte den halbwüchsigen Moa knapp. Selbst wenn er getroffen hätte, würde er aller Wahrscheinlichkeit nicht tödlich gewesen sein, dazu befand sich der stattliche Laufvogel einfach zu weit entfernt. Der sirrende Pfeil vermochte das stolze Tier nicht einmal zu verjagen, aber mein frustrierter Schrei tat es. Die vergebliche Suche nach dem verschossenen Projektil sorgte für zusätzliche Verdrossenheit, ließen sie sich doch augenblicklich nur schwer ersetzen.
Umso mehr kam uns Lukes umfangreiches Wissen über die Flora Gondwanalands zugute. Zuweilen ging er in die Knie und las mal dieses mal jenes auf, eine Tätigkeit, der Krister und ich nur anfangs Interesse zollten. Was auch immer er aus der Erde zog und in seinen Rucksack packte, spätestens bei der folgenden Mahlzeit tauchte es wieder auf, sei es als Beilage zu Röstkaninchen, gebratenem Golbat oder – je nach Jagdglück – auch als Hauptgericht. Auf diese Weise lernte ich die Namen von bislang unbekanntem Wildgemüse kennen wie die nach längerem Kauen zuckersüße Hirschmöhre, die im offenen Feuer geröstet sogar noch besser schmeckte. Ein weiteres Mal zauberte Luke grüne, faustgroße Knollen hervor, die er wer weiß wo dem Erdboden entrissen hatte und Brotsamen nannte.
„Woher kennst du all dieses merkwürdige Zeug?“ fragte ich ihn beim Verspeisen meiner Ration bitter schmeckenden Brotsamens. Die gestrigen Hirschmöhren wären mir lieber gewesen. Oder jene Erdbirnen, die so sehr an Kartoffeln erinnerten. Wir nahmen uns zum ersten Mal seit Tagen etwas mehr Zeit für den mittäglichen Aufenthalt. Ein weiser Entschluss. Das Tempo der vorangegangenen Tage ließ sich beim besten Willen nicht weiter einhalten.
„Mein Vater lehrte mich früh, die Geschenke der Natur zu erkennen“, antwortete Luke nach kurzem Zögern. „Dafür bin ich ihm noch heute dankbar.“
Zum ersten Mal sprach Luke über seinen Vater. Da ich mir nicht sicher war, darauf gefahrlos eingehen zu dürfen, nickte ich nur knapp. Meine Augen nahmen dafür eine plötzliche Bewegung in Lukes Gepäck wahr, ein willkommener Anlass, das Thema zu wechseln.
„Entweder entwickelt dein Rucksack gerade ein erstaunliches Eigenleben oder du hast uns einen Teil des Mittagessens unterschlagen.“
Lukes Blick folgte umgehend meinem ausgestreckten Zeigefinger. In diesem Moment lugte auch schon ein fellbesetztes Köpfchen vorwitzig heraus.
„Du hast einen Fego gefunden?“ fragte ich, meine Überraschung wenig unterdrückend.
„Nicht gefunden“,