Anfangs erwartete ich bei jedem unbekannten Geräusch aus allen Richtungen heranstürmende Opreju, die uns den Garaus machen wollten, da wir es gewagt hatten, ihr Herrschaftsgebiet zu betreten. Doch auch diese Befürchtung bewahrheitete sich nicht. Es ging dafür stundenlang durch nahezu undurchdringliches Dickicht. Mit Hilfe meines Stabes kamen wir zwar den Umständen entsprechend flott vorwärts, dennoch erwies sich das ständige um sich schlagen als äußerst lästig. Und es schien zudem kein Ende nehmen zu wollen. Krister erkundigte sich irgendwann, wie lange ich mich noch am Fluss entlang voranzukämpfen gedachte. Er schien mein Zaudern zu ahnen, unwiderruflich ins Unbekannte vorzudringen.
„Irgendwann müssen wir ja doch“, gab er zu bedenken.
„Dessen bin ich mir bewusst“, erwiderte ich zögernd. „Ich befürchte nur, wir erreichen zu früh die Hyperion Bay und verlieren zuviel Zeit mit ihrer Umrundung.“
Krister durchschaute den Vorwand sofort.
„Nicht, wenn wir leicht südöstlichen Kurs einschlagen. Außerdem wäre mir wohler, so schnell wie möglich wieder das Meer zu erreichen.“
Dem stimmte ich zu. Küstenmenschen, die wir nun einmal waren, wussten nur wenig anzufangen mit Wäldern und Bergen. Wir einigten uns darauf, dem Fluss bis zum Einbruch der Dunkelheit zu folgen, einen Lagerplatz für die Nacht zu suchen und vom kommenden Tag an ins Innere Laurussias vorzustoßen.
Viel zu bald stellte sich mächtiger Hunger ein. Kein Wunder, die Nahrungsaufnahme hatte an diesem Tag noch wenig im Mittelpunkt gestanden. Körperliche Anstrengung gepaart mit hoher Aufmerksamkeit forderten jedoch schlussendlich widerspruchslosen Tribut. Zu unserer Freude fanden sich auf einer sonnenbeschienenen Lichtung Unmengen leuchtend weißer Trichterlinge, die wie zeitige Schneeflocken im späten Herbstgrün anmuteten. Wir nahmen das Geschenk der Natur dankbar an und legten eine Rast ein. Angebraten im ausgelassenen Fett des glücklosen Kaninchens von vorgestern Abend nahmen die Pilze eine pechschwarze Färbung an und wirkten weit weniger appetitlich. Doch das tat ihrem Geschmack keinen Abbruch, er entsprach allerhöchsten Erwartungen. Luke war einigermaßen erstaunt, so viele Trichterlinge auf einem Haufen gefunden zu haben, vor allem so früh im Jahr.
„Wieder ein Beweis für die Abwesenheit von Menschen“, führte er an. „Niemand würde diese Leckereien ungepflückt stehen lassen! Niemand!“
Ich lächelte. „Nun ja, du wirst zugeben müssen, dass es sich hier um ein wirklich abgelegenes Gebiet handelt, und wir die Pilze letzten Endes auch nur zufällig entdeckt haben. Und was ist das jetzt?“
Luke fügte dem auf dem Feuer schmorenden Gericht grob zerkleinertes Grünzeug hinzu, welches einen scharfen Zwiebelgeruch verbreitete.
„Ramslauk natürlich. Wilder Agghia wäre natürlich noch besser, aber leider habe ich keinen gefunden. Aber der Ramslauk wird es auch tun, selbst wenn er natürlich nicht das verwegene Aroma von Agghia erreicht. Das Zeug wächst unten am Fluss in Massen.“
„Aha.“ Ich hatte weder von der einen noch von der anderen Pflanze jemals gehört. Aber ich ließ Luke machen, in dieser Hinsicht durften wir ihm vertrauen. Das schmackhafte Pilzgericht reihte sich dann auch nahtlos in die Reihe kulinarischer Köstlichkeiten ein, die Luke stets im Vorbeigehen zu finden wusste. So mussten keine Angelruten ausgeworfen werden, um ein paar unvorsichtige Fische aus dem Skelettfluss zu ziehen.
Noch vor Einbruch der Dunkelheit löschten wir das Feuer. Jetzt, da wir uns unwiderruflich im „Feindesland“ befanden, galten erhöhte Vorsichtsmaßnahmen. Von nun an mussten wir auch nachts auf der Hut sein, konnten uns nicht den Fehler erlauben, im Schlaf überrascht zu werden. Ich erklärte mich bereit, die erste Wache zu übernehmen, nicht zuletzt wegen der Furcht vor meinem unruhigen Geist und seiner Eigenschaft, friedlose Träume zu produzieren. Doch unsere erste Nacht auf dem Boden Laurussias verlief ohne besondere Vorkommnisse.
Laurussia hieß uns wenig willkommen.
Wir waren zeitig aufgebrochen, in der kühnen Absicht, die Hyperion Bay noch vor der Abenddämmerung zu erreichen. Anfangs sah es auch ganz danach aus, als würden wir es schaffen. Das Dickicht, das den Skelettfluss wie ein grüner Panzer umgab, lichtete sich alsbald, und ich konnte endlich mit Schneisenschlagen aufhören.
Wir erreichten einen Dschungel aus riesigen Bäumen, deren Kronen weit über unseren Köpfen ein undurchdringliches Dach bildeten. Nicht ein Sonnenstrahl berührte den trockenen, festen Boden. Niedere Vegetation hatte keine Möglichkeit zur Entfaltung und konnte uns somit das Vorankommen nicht erschweren. Entsprechend unfruchtbar und darüber hinaus überraschend still präsentierte sich der Forst, den Luke passend „Schweigenden Wald“ taufte. Nur hier und da erklang der traurige Ruf eines einsamen Vogels.
Wir wanderten zügig durch dieses düstere Labyrinth aus unzähligen kahlen, dicht mit Moos bewachsenen Stämmen, die sich uns breit wie Häuser entgegenstellten. So gut wie unter diesen Umständen möglich versuchten wir südöstlichen Kurs zu halten.
Stunden später wurde das Gelände hügeliger. Die Urwaldriesen nahmen ab, aufdringliches Dickicht in gleichem Maße zu. Viel zu früh kamen wir mit stark gedrosselter Geschwindigkeit nur noch erneut wild um uns schlagend vorwärts. Der Flurschaden, den wir hinterließen, würde noch wochenlang zu sehen sein. Wir wechselten einander mit Schneisenschlagen ab, doch schien die kräftezehrende Tortur kein Ende nehmen zu wollen.
Nach weiteren Stunden der Verzweiflung änderte sich das Terrain abrupt. Steil ging es plötzlich bergan, unerwartet steil. Ein Vorwärtskommen aufrechten Ganges gestaltete sich gerade noch möglich, oftmals jedoch nur unter Zuhilfenahme beider Hände. Einen Vorteil barg die Veränderung: Strauchwerk und Gestrüpp zogen sich zurück. Endlich standen wir auf der überwiegend kahlen Kuppe eines ansehnlichen Hügels, der eine herrliche Rundumsicht bot.
„Himmel, was für ein Ausblick!“ Luke sprach mir aus der Seele.
Der Blick zurück ließ sich nur schwer beschreiben. Die Kronen der Baumriesen, die der Hügel nur knapp überragte, bildeten einen schnurgeraden, überdimensionalen Teppich aus allen erdenklichen Grüntönen soweit das Auge reichte. Hier und da hingen zerbrechlich wirkende Nebelschwaden über dem Blätterdach. So etwas hatten wir drei Reisenden noch nicht gesehen, entsprechend nachhaltig ergriff uns dieser majestätische Anblick.
„Und da haben wir uns durchgekämpft?“ Krister kratzte sich nachdenklich an der Schläfe. „Kaum zu glauben.“
Den Blick nach vorne gerichtet ging es weiter durch unebenes, hügeliges Gelände. Die Vegetation passte sich den veränderten Gegebenheiten an. Gedrungenere Bäume beherrschten das Landschaftsbild. Buschwerk hielt sich in Grenzen. Wir konnten endlich anständig marschieren, auch wenn ich mich mit dem ewigen Auf und Ab wenig anfreunden wollte.
Irgendwann meinte Luke: „Findet ihr nicht auch, dass diese Hügel auf merkwürdige Weise künstlich aussehen?“
Jetzt wo er es aussprach, fiel mir ein, ähnliches auch schon beiläufig gedacht zu haben. Nur hatte ich dem keine Wichtigkeit beigemessen. In Gedanken befand ich mich schon in Hyperion, wo ich meinen Bruder aufzuspüren beabsichtigte. Eine leise Ahnung verriet mir, ihn dort nicht zu finden, ein momentaner Eindruck, der durchaus falsch sein konnte... doch ich hatte bereits sehr wohl gelernt, spontanen Eingebungen in gewissem Maße zu vertrauen.
„Sie wirken unnatürlich ebenmäßig, nicht wahr? Würde mich nicht wundern, wenn auf ihnen Schafe weideten. Der dort drüben hat auch eine viel zu flache Kuppe, um echt zu sein.“ Luke deutete auf eine mit Gräsern und niedrigem Gesträuch bewachsene Erhebung zu unserer Linken, keine zehn Meter hoch.
Wir verweilten einen Augenblick und begutachteten sie eindringlicher. Bei genauerem Hinsehen blieb keine andere Wahl, als ihren unnatürlichen Ursprung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit akzeptieren zu müssen.
„Merkwürdig“, fand nun auch Krister. „Sieht aus wie irgendwann einmal in jahrelanger Arbeit aufgeschaufelt. Aber wer um alles in der Welt sollte hier im Niemandsland Hügel bauen? Und wozu?“
„Und nicht nur einen“, gab ich zu bedenken. „So wie es aussieht, gibt