Ta Geos sah fragend zu Livianya, und diese nickte. Dann lächelte er die
beiden Männer freundlich an. »Seht es uns nach, ihr guten Herren, doch die
Hochgeborene und ich haben wichtige Angelegenheiten zu erörtern.«
Der Seilmacher schien einen Moment irritiert zu sein, doch der Gardist gab
ihm mit einer kleinen Geste zu verstehen, dass das Einziehen des Seils noch
warten musste. Als sich die Tür hinter den beiden Männern schloss, deutete
Livianya auf einen der geschwungenen Stühle, die vor ihrem Schreibtisch
standen. Sie selbst schritt zu der Karte, die an einer der Längsseiten des
Raumes hing.
Der Amtsraum war, wie auch ihr Schlafquartier, bescheiden eingerichtet,
verriet aber dennoch die ordnende Hand einer Frau, die es schätzte, das
Praktische mit dem Schönen zu verbinden. Wenige Möbel standen hier,
verziert, doch nicht mit Schmuck überladen, wie es die Adligen vorzogen.
Dazu ein hohes Regal mit Schriftrollen und Büchern. Eines davon wies auf
seinem Rücken elfische Zeichen auf. Es stammte noch von Livianyas
verstorbenem Mann. Sie selbst hatte nie gelernt, die elfische Schrift zu
deuten, obwohl sie es sich schon oft vorgenommen hatte. Aber es gab
wichtigere Dinge zu erledigen. Im Regal standen zudem einige feinsinnige
Schriften aus der Künstlerschicht von Alneris. Dazu die Standardwerke der
alnoischen Garde. Handbücher zum Festungsbau, zur Ausbildung und zur
Taktik. Das meiste davon war nach Livianyas fester Überzeugung dummes
Zeug und diente nur dazu, den Namen des Schreibers zu verbreiten. Jeder
Gardist von Verstand wusste, dass man im Winter besser warme Kleidung
trug, und brauchte dafür kein Buch zu konsultieren. Die meisten Gardisten
beherrschten die schriftliche Sprache, doch statt der militärischen Handbücher
studierten sie lieber jene frivolen Schriften, die in der Unter- und Oberschicht
von Alneris gleichermaßen beliebt waren.
»Ich hatte mir von Daik ta Enderos Unterstützung erhofft«, begann
Livianya und setzte sich neben Bernot. »Aber als die Sache an den Kronrat
ging, da ahnte ich, dass es Schwierigkeiten geben würde. Als dann ta Andarat
erschien, war mir klar, dass wir auf uns allein gestellt bleiben. Wir werden so
lange keine Verstärkung erhalten, bis die Irghil Maratran direkt bedrohen.«
»Ich denke nicht, dass sie das wagen würden. Maratran liegt sehr hoch, ist
kaum zugänglich und schwer befestigt. Mit ihren Scheren werden die Bestien
die Mauern nicht zu Fall bringen können.«
Livianya seufzte. »Ihr müsst lernen, weiter zu sehen, Bernot. Habt Mut zu
freien Gedanken. Ihr dürft nicht nur den Feind in der ersten Schlachtlinie
betrachten.«
Er runzelte verwirrt die Stirn. »Ich verstehe nicht …«
»Ach, Bernot, beschränkt Euch nicht zu sehr auf Jalanne.« Die
Hochgeborene erhob sich und ging zur Karte hinüber. »Hier, unser
Königreich Alnoa. Und hier das vergangene Reich von Jalanne. Dazwischen
der Große Wall und Maratran. Und jenseits von Jalanne, Bernot?«
Er brauchte nicht auf die Karte zu sehen, um die Antwort zu geben. »Die
Wüste von Cemen’Irghil. Auch dort leben nur Bestien. Sandbarbaren und die
Orks des Schwarzen Lords.« Seine Stimme stockte. »Bei den Finsteren
Abgründen, du glaubst doch nicht …?«
Der Schock ließ ihn unwillkürlich ins vertrauliche Du übergehen. Livianya
ignorierte es. Seine Aufregung war verständlich. »Immerhin ist es eine
Möglichkeit, nicht wahr? Die Scherenbestien könnten sich mit den Orks
verbündet haben.«
»Aber … welchen Sinn sollte das haben? Ich meine, warum greifen sie
dann nicht gemeinsam an? Ein Überraschungsangriff, wie damals, als Euer …
Wie damals, vor Dergoret.«
Dergoret. Der Tod ihres Gemahls. Für einen Moment flammte die
Erinnerung schmerzhaft in ihr auf. »Dergoret und Maratran sind stärker
befestigt als je zuvor. Sie sind nicht mehr im Handstreich zu nehmen. Die
Signalfeuer würden entzündet, und in wenigen Tageswenden wäre
Verstärkung hier. Ein Zehntag, und die Armee des Königs steht bereit.
Dennoch liegt Ihr nicht ganz falsch, Bernot.« Livianya tippte gegen die Karte.
»Die Garde bestreift Jalanne nicht. Wir reiten nur hinunter, wenn die
Lemarier uns zu Hilfe rufen. Sie sind das Einzige, was noch zwischen Alnoa
und seinen Feinden steht.«
Bernot ließ ein Schnauben hören. »Sie sind wohl kaum ein Hindernis.«
»Sie haben Augen, und sie haben unsere Signalspiegel.«
»Die sie nicht benutzen.«
»Die sie aber benutzen könnten. In jedem Fall muss der Feind damit
rechen, dass sie uns warnen.«
»Ihr glaubt, das ist der Grund, warum die Irghil die Lemarier töten wollen?
Und dass sich die Scherenbestien mit dem Schwarzen Lord und seinen
Legionen verbündet haben?«
»Es wäre möglich, Bernot. Es wäre möglich. Denkt an die Worte ta
Andarats.« Livianya lächelte kalt. »Würden die Orks gegen die Lemarier
vorgehen, dann würde der Kronrat in Alneris Gefahr wittern. Maratran würde
augenblicklich verstärkt werden. Doch so sind es nur ein paar Scherenbestien.
Keine Bedrohung für das Reich. Ta Andarat hat es deutlich genug zum
Ausdruck gebracht. Wir sollen schön in Maratran bleiben und die Lemarier
ihrem Schicksal überlassen. Sie können ja zu uns kommen, wenn sie wirklich
in Gefahr sind.«
Ihre Stimme war kühl und beherrscht. Bernot ta Geos spürte Hitzewellen
durch seinen Körper jagen. »Ihr meint, so lange die Lemarier leben, werden
die Orks nicht in Erscheinung treten?«
»Die Drecksarbeit, hilflose Männer, Frauen und Kinder abzuschlachten,
überlassen die Orks diesmal den anderen Bestien.«