Lautes Kinderlachen ließ sie schließlich aufblicken. Durchs Fenster konnte sie die beiden Nachbarskinder beobachten, der Vater mähte den Rasen und die Kinder liefen hinterher und warfen den Grünschnitt mit viel Gelächter in die Luft. Kurzentschlossen eilte Luisa in die Küche, griff ins Eisfach und zog drei Eis am Stiel hervor, für einen Moment überlegte sie, ob sie für den Vater auch ein Eis mitnehmen sollte, ach, warum nicht. An der Grenze zum Nachbargrundstück blieb sie stehen. „Huhu … Bella“, rief sie, „habt ihr, du und deine Schwester, Lust auf ein Eis?“
Der Vater stellte den Rasenmäher aus und kam mit bedachten Schritten auf sie zu. „Ich muss mich für den Radau meiner Kinder entschuldigen“, sagte er, „aber die Kleinen sind zurzeit außer Rand und Band, wenn sie zu laut sein sollten, so geben Sie bitte einfach Bescheid.“
„Nein, nein um Himmels willen, ich wollte Bella und ihrer Schwester nur ein Eis anbieten – jedoch nur mit Ihrer Erlaubnis!“
Der Nachbar lachte und schien hoch erfreut über ihre herzliche Geste.
Im nächsten Augenblick kamen die Kleinen auch schon angestürmt, „hier“, lachte Luisa, „Schokoladeneis, das mögt ihr doch sicherlich!“
Beide sahen zunächst ihren Papa an, als der nickte, griffen sie sogleich zu. „Darf ich Ihnen auch eine Erfrischung anbieten? Hier, nehmen Sie! Ich habe noch mehr davon“, spornte sie ihn an.
Er lachte und griff ebenfalls dankend zu. „Ich bin Jasper!“, sagte er.
„Freut mich, ich bin Luisa.“
Eisschleckend und schweigend standen sie einander gegenüber, hin und wieder sahen sie zu den Kindern, die friedlich auf den Treppenstufen der Terrasse saßen und genussvoll ihr Eis schleckten.
„Wie einfach es doch ist sie ruhig zu stellen“, unterbrach der stolze Vater das Schweigen.
Luisa musterte ihr Gegenüber und dachte, das Vater-Sein steht ihm gut und macht ihn dazu noch sehr sympathisch.
Er fühlte sich offenbar von ihren Blicken ermuntert und fragte: „Wohnen Sie schon lange hier?“
„Ja, seit fünfundzwanzig Jahren.“
„Schönes Haus“, bemerkte er eisschleckend, wobei er das Haus nun etwas genauer in Augenschein nahm.
„Mein Mann ist Architekt“, antwortete Luisa, „er hat es nach unseren Bedürfnissen entworfen.“
„Sehr geschmackvoll, sicherlich sieht es innen noch viel schöner aus!“
Luisa nickte, „und Sie sind erst vor Kurzem hier eingezogen – so wie ich das mitbekommen habe. Woher kommen Sie?“
„Aus München!“, entgegnete er.
„Ich habe bisher immer nur Sie und die Mädchen gesehen. Wo ist eigentlich Ihre Frau?“
Für einen Augenblick hielt er mit jeder Bewegung inne, sein Gesicht erstarrte zur Maske, erst das Juchzen seiner Kinder hauchte ihm wieder Leben ein, aus einem tiefen Seufzer heraus antwortete er: „meine Frau? Sie ist tot!“
Luisa hatte es für einen Moment die Sprache verschlagen, „oh, das … das tut mir leid“, versuchte sie ihren Fauxpas zu entschuldigen, und weiß Gott, sie schämte sich für ihre äußerst unsensible Frage.
„Kein Problem“, entgegnete er prompt, „schließlich können Sie das ja nicht wissen! So, jetzt wird’s aber Zeit, ich wollte mit den Kindern noch in den Zoo – das habe ich ihnen versprochen. Vielen Dank fürs Eis“, lächelte er, „und bis bald.“ Bevor er den Rasenmäher wieder in Betrieb nahm, sagte er: „Vielleicht kann ich mich, mit einem Kaffee oder einem Glas Wein, einmal revanchieren.“ Mit einem freundlichen aber resoluten Kopfnicken ratterte er dann mähend an ihr vorüber.
Luisa winkte den Kindern noch zum Abschied zu, eine Geste die sie auch prompt erwiderten. Die Mitteilung, dass die Kinder keine Mutter mehr hatten und er keine Frau, hatte sie traurig gestimmt und ihre Sorgen geringer werden lassen. Kopfschüttelnd dachte sie, die Welt ist voller Tragödien, und du, du sitzt in einem goldenen Käfig, hast einen Ehemann der dich auf Händen trägt, bist gesund und zergehst vor Selbstmitleid, nur weil dein Mann dir etwas verschweigt. Ja, verdammt, schrie die Gekränkte in ihr, die Unsicherheit, das Nicht-Wissen was mit ihm los ist, macht mich wahnsinnig!
Am späten Nachmittag hatte Carin angerufen und sie gefragt, ob sie Lust und Laune auf eine Vernissage hätte, und da sie von Carl, seit den Morgenstunden, nichts mehr gehört und gesehen hatte, sagte sie spontan zu.
Pünktlich um neunzehn Uhr stand Carin aufgedonnert auf der Türschwelle. Sie trug ein zitronengelbes und sehr enganliegendes Etuikleid, darüber ein apfelgrünes Lederjäckchen und Pumps mit bunten floralen Motiven.
„Wow“, stieß Luisa hervor, wo hast du denn dieses schrille Outfit her?“
„Second-hand-Laden!“, lachte Carin, „alles Designerklamotten, kaum getragen und spottbillig“, während sie wie ein Model an ihr vorüberschritt, drückte sie mit zielsicherer Eleganz Luisas Kinnlade wieder hoch, „nun guck nicht so, dort wo wir hingehen, gibt es keine Normalos – hey, Luisa, das sind alles verrückte Künstler“, fügte sie zur besseren Verständigung an, „da kannst du nicht im konservativen Bänker-Outfit daherkommen“, wobei ihr Blick abschätzend an Luisa herunterglitt. „Hast du denn nichts anderes zum Anziehen?“
Luisa zog die Stirn nachdenklich in Falten und zuckte mit den Achseln, doch bevor sie antworten konnte, stand Carin bereits in Luisas Ankleidezimmer, „na, da hätten wir doch was“, sagte sie mit einem siegessicheren Schmunzeln.
Luisa rümpfte beim Anblick die Nase, „das ist nicht dein Ernst!“, bemerkte Luisa, als Carin ihr den roten Overall vor die Brust hielt, „der sollte eigentlich schon längst in der Altkleidersammlung sein …“
„Also ich finde der ist genau richtig, außerdem steht dir die Farbe, dazu … warte …“, dann griff sie – Luisa hatte es schon befürchtet – zu der pinkfarbenen Lederjacke, „ja, die ist perfekt“, jubelte sie, „so, und nun will ich, dass du dich beeilst, sonst verpassen wir noch die Begrüßung des Künstlers, und das wäre ein No-Go!“
„Die Schuhe darf ich mir aber selbst aussuchen“, doch zu spät, Carin hielt ihr bereits die pinkfarbenen Sneakers entgegen, augenzwinkernd und mit den Worten, „die sind perfekt und dazu noch bequem!“ – denn sie wusste, dass Luisa Komfort-Treter bevorzugte.
Und ja, Carin hatte wie immer Recht! Mit ihrem flippigen Äußeren gingen sie, sowohl mit der Kleidung der geladenen Gäste, als auch mit dem Ambiente völlig d’accord. Seit Jahren war Luisa das erste Mal wieder auf einer Vernissage und jetzt war ihr auch wieder klar, warum sie solche Veranstaltung immer gemieden hatte: die Gäste schwebten in Sphären die ihr völlig fremd waren, und so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte den Erklärungen des Künstlers nicht folgen. Carin schien sich jedenfalls zu amüsieren, sie gab sich interessiert, plauderte mit irgendwelchen ausgeflippten Leuten aus der Kunstszene, stopfte Häppchen in sich hinein und süffelte dazu den teuren Champagner. Luisa schlenderte derweil von Bild zu Bild, und während sie sich krampfhaft, auch verunsichert, an ihrem Champagner-Glas festhielt, beobachtete sie die Kunstinteressierten wie sie sich beim Betrachten der Bilder verhielten: manche neigten den Kopf zur Seite, um vielleicht aus einer anderen Perspektive etwas erkennen zu können; andere wiederum lieferten sich geradezu ein Duell im Kunst-Jargon. Ja, und dann gab es noch die ewig Neugierigen, denen es nur ums Sehen und Gesehen-Werden ging.
Plötzlich räusperte sich jemand neben ihr, „Pardon“, entschuldigte er sich, „das ist die schlechte Luft.“
Luisa nickte ihm nur stumm zu, denn aus den Augenwinkeln konnte sie bereits erkennen, dass er ein Sonderling war