Die Tür fiel ins Schloss und Chara zog sich ihr Hemd über. Während sie sich den Gürtel umschnallte, schlich sich ein Bild in ihren Kopf: Stowokor. Der tauchte in letzter Zeit öfter auf. Zur Hölle, sie würde nicht zulassen, dass ihr das Schicksal des Magiers über den Kopf wuchs.
„Es ist dir doch längst über den Kopf gewachsen, Chara. Oder kannst du etwa noch klar denken?“
„Das will ich doch meinen. Wozu hab ich dich?“
„Seit wann hörst du auf mich?“
„Seit jetzt.“
Es half nichts. Sie musste es sich eingestehen. Sie hatte sich eindeutig nicht mehr im Griff. Die Gefühle brachen über sie herein wie eine verdammte Flutwelle. Seit sie sich hatte gehen lassen … in dieser einen verhängnisvollen Nacht mit dem Vampir. Nach allem, was sie sich über die Jahre hinweg aufgebaut hatte, wollte alles aus ihr raus, was da in ihr zuckte, spuckte und schrie. Dabei war der Zorn noch das beste der Gefühle, die sie übermannen wollten. Mit dem Zorn hatte sie bereits gelebt, mit dem Zorn konnte sie umgehen. Der Rest?
Wir werden alle sterben …
Es ist jetzt nicht mehr weit.
Die Zeichen stehen auf Ende
Auch ihr seid nicht gefeit.
„Ein verdammter Männerchor war das“, fluchte Chara, schlüpfte in ihre Stiefel und verließ die Kajüte. Sofort hatten Nok und Iti sie in ihre Mitte genommen. Nok war so gut wie immer bei ihr. Chara fragte sich, wann er eigentlich schlief und ob er es je tat. Vermutlich tat er es, wenn sie sich selbst gerade unruhig im Bett wälzte, doch sie war sich ziemlich sicher, dass er auch dann häufig Wache hielt. Es stand jedenfalls fest, dass es Nok war, der das Sagen unter den Dad Siki Na hatte. Sie hatte einmal versucht, mit ihm zu reden. Aber er war noch verschlossener als sie. Was nachvollziehbar war. Immerhin musste er Das Tier in dir am Schweigen halten. Siki Ka Tri Ida Di …
Schweren Schritts stiefelte Chara durch den Korridor Richtung Mannschaftsunterkünfte. Sie hatte das Ende des Gangs gerade erreicht, da vernahm sie ein verhaltenes Gemurmel nahe der Luke und blieb stehen. Nok und Iti reagierten gewohnt geistesgegenwärtig und erstarrten in ihrem Rücken zu atmendem Stein.
Als Chara einen vorsichtigen Blick um die Ecke riskierte, fand sie eine Gruppe von Matrosen, die beieinanderstanden und sich leise unterhielten.
„Mann, Tommen, mach hier bloß keinen auf naiv“, bemerkte einer von ihnen gerade. „Du weißt so gut wie ich, dass wir das nicht überleben. Wir treiben mitten in diesem schwarzen Zeug und weit und breit kein Land in Sicht.“
Der Matrose namens Tommen zog eine Grimasse. „Die Kommandanten werden schon wissen, was sie tun. Die wissen doch viel mehr als wir. Wahrscheinlich wussten sie, dass wir in diese Gewässer geraten und sind darauf vorbereitet. Der Admiral vertraut ihnen.“
Der Dritte im Bunde grinste zynisch. „Na klar. Er wird sie wohl kaum öffentlich in Frage stellen. Das wäre ja glatt Meuterei. Nein, nein, die wissen so wenig wie wir. Und ich find’s echt zum Kotzen, dass uns gerade mal ein paar Planken von dem tödlichen Zeug trennen. Dieses götterverfluchte Wasser frisst sich in das Holz unserer Schiffe. Was das heißt, muss ich euch nicht erklären. Wir werden glasklar sinken.“
„Und was dann los ist – Ahoi!“, machte sich Nummer Eins Luft. „Die Leute, die das Wasser berührt haben, haben schlimmste Verätzungen.“
Tommen spähte Richtung Luke und kaute nervös an seinen Fingernägeln. „Ihr habt schon recht. Es hat trotzdem wenig Sinn, Panik zu verbreiten, oder?“
Ein Schulterzucken folgte. „Wer schiebt denn hier noch keine Panik?“
Es folgte betretenes Schweigen, und Chara beschloss, der Sache ein Ende zu bereiten. Sie hatte genug gehört. Unbekümmert trat sie in die Mannschaftsunterkünfte und rief: „Kerrim, Besprechung!“
„Ah …“, vernahm sie Kerrims gereiztes Stöhnen aus dem dunklen Winkel steuerbordseitig. „Was gibt es denn jetżet schon wieder? Ich ħabe geschlafen fast überhaupt nicht.“
Entweder hatte der Kollege das genaue Gegenteil getan oder wie sie gelauscht. Jedenfalls bewies die Reaktion der drei Matrosen, dass Kerrims Gegenwart unbemerkt geblieben war. Mit einem erschrockenen Blick in seine Richtung verzogen sie sich über die Treppe aufs Hauptdeck.
„Mach schon, Kerrim. Wird Zeit, dass wir ein paar Dinge klären.“
Ein Stöhnen war zu hören, dann ein leises Poltern und schließlich schlurfte Kerrim völlig zerzaust zwischen den Hängematten hindurch auf sie zu. Das Hemd hatte sich zusammen mit dem Schal um seinen Hals gewunden, sodass sein halber Bauch im Freien lag.
„Ich ħabe geredet die ganże Żait mit den Żauberkundigen aus der Kħommandoflotte. Waißt du, wie anstrengend das ist?“, grummelte er und zerrte an seinem Oberteil. „Ich ħabe schon kħaum geschlafen in den letżten Tagen. Und jetżt sieht es ganż danach aus, dass das auch so blaiben wird in den nächsten.“
Richtig. Sie hatte Kerrim damit beauftragt, die Zauberkundigen auszuhorchen, musste etwas darüber erfahren, wie diese im Allgemeinen zu Ahrsa Kasai standen, und was sie in ihrer Freizeit so trieben. Die Verräter hatten glasklar magische Unterstützung. Kerrim war der beste Mann dafür. Niemand konnte sich so unauffällig gebärden wie er.
„Aines kħann ich dir auf jeden Fall jetżet schon flüstern: Ahrsa ist so richtig beliebt unter sainen Kħollegen. Anschainend kħann ihn jeder laiden und nach allem, was so geredet wird, ist er mehr als bemühet, saine Leute żu stellen żufrieden.“
Chara rümpfte die Nase. „Das trifft dann aber nur auf die Zauberkundigen zu. Bei allen anderen zeigt er sich vor allem begabt darin, ihnen Steine in den Weg zu legen.“
„Jedenfalls wenn es gehet um dich“, erwiderte Kerrim mit einem Schulterzucken.
„Wir haben also mehrere Verräter im Flottenverband“, rekapitulierte Chara. „Laut Al’Jebal sind es mehr als einer. Es gibt einige Mitglieder des Chaosbündnisses, die sich, hübsch getarnt, innerhalb unserer Schiffsbesatzungen frei bewegen können. Und wir können nicht das Geringste dagegen unternehmen.“
„Schauet so aus. Im Moment sind uns auf jeden Fall gebunden die Ħände. Wir kħönnen nur machen waiter mit unseren Untersuchungen und ħoffen, dass wir finden aine Spur.“
Chara nickte stumm. Dann setzte sie sich Richtung Treppe in Bewegung. Auf dem Weg zur Offiziersmesse wurde deutlich, dass das Meer unverändert schwarz war und erneut tote Fische auf der Wasseroberfläche trieben. Als wäre das nicht genug, herrschte Flaute. Nicht der Hauch eines Windes strich durch die Segel. Also waren sie in den schwarzen Wassern gefangen.
In der Messe warteten bereits alle Expeditionskommandanten. Siralen hatte Darcean zur Besprechung gebeten, und natürlich hatte sich auch der ehrenwerte Magus Primus Ahrsa Kasai eingefunden, um Lucretia, die offenbar in Trauer war, würdevoll zu vertreten. Chara hatte Telos informiert. Sie wollte ihn diesmal dabeihaben, und er war ihrem Ruf gefolgt.
Kaum, dass die üblichen Guten-Morgen-Wünsche über den Tisch hin- und hergeschoben worden waren, meldete sich auch schon die Primadonna unter den Magiern zu Wort: „Werte Anwesende …“ Pause. „… Frau Pasiphae-Opoulos …“
Ihrerseits allen Wertes enthoben, lehnte sich Chara entspannt zurück und wartete auf den Rest seines Vortrags, der auch umgehend folgte: „Wenn ich mir die Fakten der vergangenen Tage ins Bewusstsein rufe – angefangen bei der noch immer nicht gelösten Verräterproblematik …“ Kasai entfaltete seine fein-säuberlich geordneten Unterlagen und studierte, was es auch immer dort zu studieren gab. „…bis hin zu den aktuellen tragischen Vorfällen rund um das schwarz-goldene Wasser …“ Seine verkniffenen Augen wanderten akribisch in die Runde. „… bin ich der Meinung, dass heute einiges zu besprechen ist und zu Protokoll genommen werden muss.“
Es