Herr Enzensberger war ein prominenter Mann, ein bekannter Autor. Er war seit Jahrzehnten anerkannt. Es war klar, man musste die Gelegenheit beim Schopfe fassen, denn wir konnten nicht einfach zu ihm nach Westberlin fahren, wo er zu dieser Zeit wohnte, und auch er würde nicht jeden Tag über die Grenze kommen. Also du wirst es versuchen, sagte die Chefin, erkundige dich, wann er im DT zu erwarten ist, sprich mit dem zuständigen Dramaturgen, bitte ihn, dich mit ihm bekannt zu machen. Du musst von dort unbedingt eine feste Interviewverabredung mitbringen. Sie sprach nur noch zu mir hin, es war klar, dass ich mit dieser Aufgabe betraut werden sollte. Große Aufregung befiel mich, beinahe bekam ich einen Schreck. Aber natürlich war ich auch stolz darauf, dass sie mir das zutraute. Es gab einen Wirbel in meinem Inneren, das Blut schoß mir in den Kopf, hochrot saß ich nun in der Runde und brachte fürs erste kein Wort heraus. Erst seit kurzer Zeit in der Redaktion hatte ich gerade begonnen, meine Scheu gegenüber den Wissenschaftlern, mit denen ich es zu tun hatte, abzulegen. Manch kritische Zurechtweisung hatte ich erlebt, aber auch, dass meine redaktionellen Vorschläge ernsthaft erwogen und mitunter auch angenommen wurden. Aber es war das erste Mal, dass ich mit einem so prominenten, von mir verehrten Dichter sprechen würde. Ob er sich dazu bereit findet, fragte ich mich.
Unsicher auch darüber, was politisch von einem Mann wie Enzensberger zu halten war. Als Freund der DDR verstand er sich nicht, so viel war mir klar, aber vielleicht kann er als ein Sympathisant gelten, dachte ich, denn als Klassenfeind erschien er mir nicht. Also ich blieb unsicher, auch darüber, ob ich der Sache gewachsen sein würde. Aber ich widersprach dem Vorschlag der Chefin nicht. Ich kannte Gedichte von ihm, war neugierig auf den Mann. Immerhin sagte ich mir, es liegt nahe, dass die Chefin mich mit der Aufgabe betraut, denn ich hatte vor einem halben Jahr eine Dissertation über aktuelle westdeutsche Literaturentwicklungen verteidigt und kannte mich daher in der Materie ein wenig besser aus als die anderen Redakteure.
H. M. Enzensberger gehörte zu den lebenden Dichtern, deren Verse ich seit Langem las und schätzte. Drei Lyrikbände von ihm befanden sich unter meinen Büchern. Meine Mutter hatte sie mir aus Westberlin mitgebracht. Darin beeindruckten mich besonders die lyrischen Schimpfkanonaden, mit denen er gegen die stumpfe Mentalität der Wohlstandsbürger zu Felde zog. Mir gefiel, wie er die gedankenlose Saturiertheit geißelte, die alles geschehen ließ, fürs Wohlleben Restauration und Wiederbewaffnung in Kauf nahm. Als „Verteidigung der Wölfe“ getarnt, hielt er den Lämmern den Spiegel vor, in dem sie sich als willfährige Opfer eigener Blindheit betrachten konnten. Die Bewusstlosigkeit von Volksmassen, ihre Manipulierbarkeit für fremde Zwecke, ihre Korrumpierbarkeit durch scheinbare Wohltaten brachte er auf unverwechselbare Weise zur Sprache:
„wer näht denn dem general/ den blutstreif in seine hose? wer/ zerlegt vor dem wucherer den kapaun?/ wer hängt sich stolz das blechkreuz/ vor den knurrenden nabel? wer/ nimmt das trinkgeld, den silberling,/ den schweigepfennig? es gibt/ viel bestohlene, wenig diebe; wer/ applaudiert ihnen denn, wer/ steckt die abzeichen an, wer/ lechzt nach der lüge?/ seht in den spiegel: feig,/ scheuend die mühsal der wahrheit, / dem lernen abgeneigt, das denken/ überantwortend den wölfen,/ der nasenring euer teuerster schmuck,/ keine täuschung zu dumm, kein trost / zu billig, jede erpressung/ ist für euch noch zu milde.(...) gelobt sein die räuber: ihr,/ einladend zur vergewaltigung,/werft euch aufs faule bett/ des gehorsams, winselnd noch/ lügt ihr, zerrissen/ wollt ihr werden, ihr/ ändert die welt nicht.“
Solche wortkräftigen Bilder hinterließen bei mir einen nachhaltigen Eindruck, denn der Dichter konterkarierte eine Vorstellung vom Volk, die mir zu einseitig positiv, ja euphemistisch erschien, weil man auch in der DDR erleben konnte, wie dem Volk stets das Hemd näher war als der Rock. Es war doch allzu bereit, für Augenblicksbedürfnisse Ziele und Ideale aufzugeben, sie einfach an den Nagel zu hängen. Von solch rein pragmatischer Haltung wollte ich mich früh unterscheiden, Wissen und Überzeugungen erlangen, um die neue Gesellschaft mitzugestalten. Zudem erinnerten sie mich an die mehr prosaischen Schimpfkanonaden meines Vaters, der häufig über die Borniertheit der Menschen, ihre Sturheit und ihre egoistische Habgier und Enge wetterte.
Auch die poetischen Bilder und melancholischen Töne des Rückzugs zu den Schilfpfeifern und Brachvögeln des Nordens in „Blindenschrift“ gingen mir nahe, weil sie meine Sehnsucht nach Ferne ansprachen. Natürlich war mir geläufig, dass diese lyrischen Äußerungen einer schon vergangenen Lebensperiode des Mannes angehörten. In den letzten Jahren hatte er sich stark in politischen Aktionen und Bewegungen engagiert, war in vielen Ländern der Welt herumgekommen, in Europa und in den USA. Die Vereinigten Staaten hatte er 1968 mit einer öffentlichen Erklärung gegen den Vietnam-Krieg in Richtung Kuba verlassen. Dort und auch in Moskau hielt er sich einige Zeit auf. Seitdem die Studenten auch in Westberlin auf die Straße gingen, lebte er nebenan. Seine bei Suhrkamp erschienenen Untersuchungen zur Bewusstseinsindustrie kannte ich und bewunderte die analytische Schärfe und präzise Sprachkraft des Essayisten. Auch war mir bekannt, dass er seit 1965 im Suhrkamp Verlag das „Kursbuch“ herausgab, kannte die Zeitschrift und hatte manchen Beitrag gelesen.
Bereits 1965 hatten die Herausgeber mit Betrachtungen und Analysen zur „Europäischen Peripherie“ begonnen, die Aufmerksamkeit auf die Verhältnisse in der Dritten Welt zu lenken und den Widerspruch zwischen dem reichen kapitalistischen Norden und dem Elend in den Entwicklungsländern als grundlegenden Widerspruch ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit zu rücken. Mit einem „Katechismus zur deutschen Frage“ suchten sie durch neue Blickpunkte die verfestigte Spannung zwischen den beiden deutschen Staaten zu lockern. Sie verlangten Gespräche mit der DDR, schlugen Schritte zur Anerkennung des zweiten deutschen Staates vor, die die angespannte Lage verändern und die Perspektive zur Bildung einer Konföderation eröffnen sollte. Einen zentralen Platz nahmen Analysen der APO-Aktionen ein, in deren Kontext Fragen der Literatur, ihrer Funktion und ihrer Möglichkeiten im politischen Kampf erörtert wurden.
Die Zeitschrift war seit ihrer Gründung zum ideellen Wegbereiter der neuen Linken geworden und gewann auf die junge Intelligenz, die sich als außerparlamentarische Opposition verstand, erheblichen Einfluss. Zum Zeitpunkt unseres Zusammentreffens hatte Enzensberger den Suhrkamp Verlag bereits verlassen, er war dabei, die Zeitschrift