"Erlesene" Zeitgenossenschaft. Ursula Reinhold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ursula Reinhold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783847679097
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durfte. Zugegebenermaßen haftet der Auswahl der Begegnung, die hier zusammengestellt ist, etwas Zufälliges an. Die Begegnung mit Hans Magnus Enzensberger war eine Premiere für mich, Peter Schütts Weg verweist mich auf die blinden Flecke eigener Einsichten und Vorstellungen. Uwe Timm blieb mir am nachdrücklichsten von den Münchner Begegnungen, Walser-Lektüre gehört zu meinem Leben, Dieter Wellershoff entdeckte ich erst spät. Sehr verschiedene Gründe sprechen dafür, sich ihrer zu erinnern und den Eindrücken nachzugehen, die ich von ihren Büchern empfing.

      ZIL - Jahre

      Alfred Andersch wäre ich damals auch gern begegnet, aber es sollte sich nicht mehr ergeben. Sein Werk interessierte mich seit Jahren, auch seine Biografie, die Umstände seines Weges als Autor nach dem Krieg und die Gruppe 47, deren Gründung auch mit seinem Namen verbunden ist. Nachdem ich 1973 zum Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR (kurz: ZIL) überwechseln konnte, dort zunächst in einer Forschungsgruppe über den Vormärz arbeitete, einer dann neu gegründeten Gruppe DDR-Literatur zugeteilt wurde, begann ich mich intensiv mit der literarischen Situation in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg zu beschäftigen. Recherchen zu den Verlagslizenzen, die von den vier Alliierten in den Zonen nach unterschiedlichen Gesichtspunkten vergeben wurden, über das literarische Leben, wie es sich daraus zu entwickeln begann, fand ich spannend. Das Interesse an dieser Zeit entwickelte sich aus dem Bewusstsein, dass die gegenwärtige Situation, wie sie geworden war, mit den zwei deutschen Staaten nur von diesen Voraussetzungen her begriffen werden konnte. Denn das war die unmittelbare Vorgeschichte der Gegenwart. Dabei wurde mir klar, dass ich eine sinnvolle Forschungsarbeit über die Nachkriegszeit nur als wechselseitig aufeinander bezogenen Vorgang in Ost und West behandeln konnte. Hierzu wurde ich auch durch meinen familiären und persönlichen Hintergrund inspiriert, denn ich hatte die Teilung Berlins unmittelbar erlebt. Bestärkt wurde ich darin durch Bücher, die ich von meinem Vater übernahm, der nach 1945 eifriger Leser der „Weltbühne“ war und auch Hefte der von Alfred Kantorowics´ herausgegebenen Zeitschrift „Ost und West“ besaß. In seinem Bücherschrank gab es Romane, die kurz nach dem Krieg erschienen und später für lange Zeit in der DDR nicht mehr greifbar waren. Dazu gehörten z. B. Theodor Plieviers „Stalingrad“, auch Heinz Reins „Finale Berlin“ war darunter, und ich fand großformatige Exemplare von RoRoRo im Zeitungsformat, darunter einen Titel von Ignazio Silone, einem Autor, der in späteren DDR-Zeiten als Renegat galt. Damals regte mich von wissenschaftlichen Arbeiten besonders Christian Volker Wedekings Untersuchung „Der Nullpunkt. Über die Konstituierung der deutschen Nachkriegsliteratur 1945-1948 in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern“ an. 1971 erschienen, gab mir das Buch bis dahin nicht bekannte Einblicke in die Vorgeschichte der westdeutschen Literaturentwicklung. Was mich an dieser Darstellung vor allem beschäftigte, waren die Auskünfte darüber, wie sich die späteren Gründer der Gruppe 47 bereits im amerikanischen Gefangenenlager zusammengefunden hatten. Im Falle von Alfred Andersch, Hans Werner Richter und Walter Kolbenhoff handelte es sich um Männer, die vor 1933 zur kommunistischen Bewegung gehört hatten. Solche Gegebenheiten machten mir bewusst, wie verschieden die Wege von Antifaschisten waren, in welchem Maße viele von ihnen durch die Machtergreifung der Faschisten in die Isolation geraten und auf andere Wege gekommen waren als die Schriftsteller, die nach dem Ende des Krieges aus dem Exil in die sowjetische Besatzungszone zurückgekommen waren. Zu meiner großen Überraschung gehörte zur Vorgeschichte der Gruppe 47, zum Kreis derer, die bereits in Fort Devens an einer Zeitung für deutsche Kriegsgefangene mitgearbeitet hatten, aus der später „Der Ruf“ hervorging, auch der DDR-Autor Ernst Rudolf Greulich. Da er aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft in den Osten zurückgekehrt war, blieb seine Rolle unbeachtet, weil es mit der weiteren Geschichte, die sich mit dem Münchener „Ruf“ fortsetzte und zur Gründung der Gruppe 47 führte, keine Berührungen mehr gab. Im Gefangenenlager war er seinem Jugendfreund aus der weltlichen Schule in Berlin-Adlershof wiederbegegnet, der nun allerdings nicht mehr Walter Hoffmann hieß. Das war der Name, unter dem der Freund früher seine Erzählungen in der „Roten Fahne“ veröffentlicht hatte. Im dänischen Exil nahm er den Namen Kolbenhoff an und wurde unter diesem Namen nach dem Krieg als Romanautor bekannt. Auch als Mitbegründer der Gruppe 47 sollte er in die Literaturgeschichte eingehen. Walter Kolbenhoff war 1933 ins Ausland geflüchtet und wegen seiner Kontakte zu Wilhelm Reich 1934 im dänischen Exil aus der KPD ausgeschlossen worden. Er trat mit der Absicht in die Wehrmacht ein, dort antifaschistisch zu arbeiten, und kam nach Einsätzen in Jugoslawien und Italien in amerikanische Gefangenschaft. Im Kriegsgefangenenlager war er als Dolmetscher tätig und hier begegneten sich die Jugendfreunde wieder. Alfred Andersch war es in Italien gelungen zu desertieren und auch Hans Werner Richter wurde dort von den Amerikanern gefangen genommen, während Ernst Rudolf Greulich als politischer Häftling dem Strafbataillon 999 zugeteilt war. Beim Fronteinsatz in Nordafrika gelang ihm der Weg in die Gefangenschaft. Dieser Erfahrungshintergrund von Menschen, die sich in der Weimarer Republik von ihren politischen Überzeugungen und Haltungen nahe waren und später unterschiedliche Wege einschlugen, interessierte mich sehr. Was hieß schon Verrat, wenn die Geschichte doch die Menschen trennte?, fragte ich mich. Die Forschungen zur Nachkriegsgeschichte banden längere Zeit mein Interesse und meine Kräfte, und es ergaben sich daraus mehrere Arbeitsfelder. Die Beschäftigung mit der Biografie von Alfred Andersch regte mich dazu an, eine Gesamtdarstellung des Autors zu versuchen, als Ergebnis entstand die Monografie „Alfred Andersch. Politisches Engagement und literarische Wirksamkeit“. Weiterhin ergab sich aus diesen Untersuchungen eine Reihe von Porträts über Verleger (Rowohlts RoRoRo und, Suhrkamps „Beiträge zur Humanität“) und über ihre literarischen Nachkriegsprogramme. Auch Porträts über Schriftsteller entstanden, die wie Elisabeth Langgässer, Horst Lange, August Scholtis, Wolfgang Koeppen u. a. in Deutschland in der inneren Emigration gelebt hatten und für die Nachkriegsliteratur kürzere oder längere Zeit eine Rolle spielten. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind z. T. erst 1995 in „Unterm Notdach“, einem Band über die Berliner Nachkriegsliteratur veröffentlicht worden, der unter der Regie von Ursula Heukenkamp erarbeitet wurde. In den Achtzigerjahren war aus dieser Arbeit der Plan erwachsen, das Protokoll des ersten deutschen Schriftstellerkongresses aus dem Jahre 1947 zu veröffentlichen.

      Aber zunächst noch einmal zurück zu meinen Studien über Alfred Andersch. Von seinen Werken war in der DDR nur wenig gedruckt. Da er als Renegat der kommunistischen Partei angesehen wurde, tat man sich lange Zeit schwer mit der Herausgabe seiner Bücher. Erst 1973 brachte der Aufbau-Verlag eine erste Auswahl von Erzählungen mit dem Titel „Alte Peripherie“ heraus. 1976 erschien der damals neu entstandene Roman „Winterspelt“, während alle früheren Romane bis zum Jahr 1990 ungedruckt blieben. Als sie dann im letzten Jahr der DDR erschienen sind, gingen sie ganz und gar unter. Aber eine Auswahl von Reisebildern „Aus einem römischen Winter“ (1979) und einen Band mit Gedichten, „Empört Euch, der Himmel ist blau“ (1980) brachte der Aufbau-Verlag heraus, während er 1981 die Erzählung „Der Vater eines Mörders“ schon aus dem Nachlass drucken musste. Alfred Andersch war am 21. Februar 1980 verstorben. Sein früher Tod, er war erst 66 Jahre alt, forcierte mein Interesse, und leider begann ich erst dann zielgerichtet über den Weg des Autors und über sein Werk zu arbeiten. Zuvor hatte mich der Roman „Winterspelt“ zu einer euphorischen Besprechung angeregt. Mich faszinierte die erzählerische Eigenart und intensive Form der Nachfrage, mit der Andersch an das Sujet des Krieges ging, und wie er das vergangene Geschehen an die Gegenwart heranrückte. Er entwickelt hier eine Erzählform, die ein gedankliches Modell mitliefert, mit dem der historische Vollzug der tatsächlichen Geschichte die Frage nach ihren anderen Möglichkeiten, ihrem alternativen Verlauf entstehen ließ. Er arbeitet gegen eine Vorstellung von geschichtlichem Determinismus, weist auf die Geschichte als Ergebnis menschlichen Handelns und deutet so auf ihre Offenheit für Möglichkeiten, die ihrem Verlauf eine andere Richtung geben können. Ein wunderbar poetisches Kammerspiel um eine nicht stattgefundene Aktion, die, hätte es sie gegeben, den Krieg schneller hätte beenden können.

      Meine Recherchen zu Alfred Andersch führten mich ins Literaturarchiv nach Marbach. 1982 bekam ich die Erlaubnis an seinem Nachlass zu arbeiten. Es waren erst grob geordnete Materialien, die in Kisten untergebracht waren. Aber ich konnte die Vorarbeiten zu „Winterspelt“ einsehen, konnte so genaueres über die Entstehungsgeschichte des Romans erfahren. Außerdem bekam ich das nicht völlig fertiggestellte Manuskript zu dem Hörspiel