„Lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne:/ sie sind genauer“, schrieb Enzensberger den Dichtern damals ins Tagebuch, um sie von zeitabgehobener Romantik auf die Tatsächlichkeiten des politischen und sozialen Alltags hinzulenken. Drei Jahre zuvor hatte im „Kursbuch“ die Debatte über ein mögliches Ende der Literatur begonnen. In einigen Beiträgen wurde gar ihr Tod verkündet. Man flocht der schönen Dichtung mannigfache Kränze, um sie in politisierter Form schon bald wieder auferstehen zu lassen. Obwohl Enzensberger solchen völlig nihilistischen Standpunkt nicht teilte, wurde er häufig, damals und mitunter auch später noch, mit den dort vertretenen radikalen Thesen identifiziert. Offensichtlich war, dass sich sein Verständnis von literarischer Arbeit gegenüber seinen Anfängen deutlich modifiziert hatte. Er suchte genauer als bisher ihre Funktion ins Auge zu fassen und für Veränderungen offen zu sein. Neue Gegenstände fesselten sein Interesse, er nahm andere Formen in Gebrauch, alles Schreiben bezog sich direkter auf eine sich politisierende Öffentlichkeit. Sein Beitrag von 1967 „Gemeinplätze, die neueste Literatur betreffend“ umriss mit provokativen Thesen diesen Wandel. Vorstellungen von einem autonomen literarischen Kunstwerk erklärte er hier für obsolet, gab zu erkennen, dass er Autoren, die weiterhin autonom Literarisches produzierten, für nicht mehr zeitgerecht hielt. Politik galt als das Gebot der Stunde, ja, man diskutierte, ob die Situation als revolutionär anzusehen sei.
Auf jeden Fall war Hans Magnus Enzensberger ein Autor, der mich brennend interessierte. Und es gab genügend echte Fragen, die ich ihm stellen wollte, ich musste mir nichts aus den Fingern saugen. Welche Rolle er der Literatur zumaß, war durchaus eine Frage, die mich damals beschäftigte. Mich interessierte, wie sich sein Verständnis von literarischer Arbeit gegenüber seinen Anfängen modifiziert hatte. Wie sah er den gesellschaftlichen Kontext, in dem er sich bewegte? Denn, dass er auch in der Zeit radikaler Thesen nicht aufgehört hatte, zu dichten, stellte sich erst einige Zeit später heraus, als ein Suhrkamp Taschenbuch 1971 Gedichte auch aus den letzten fünf Jahren vorstellte.
Nur meine angeborene Schüchternheit konnte mir im Wege stehen, sie hemmte mich mitunter gänzlich unerwartet. In diesem Fall kamen Respekt vor dem Mann und die Unsicherheit hinzu, nur wenig von all den Dingen wirklich gelesen zu haben, vieles nur vom Hörensagen zu kennen, was da im anderen Teil Deutschlands an aktuellen Ereignissen so quirlig und unübersichtlich ablief. Immer behielt ich das Gefühl, über alles nur ungenau informiert zu sein. Dann beruhigte ich mich wieder bei dem Gedanken, dass uns in der DDR solche geistigen und politischen Wirrnisse erspart blieben, weil man hier die Zukunft sicher im Auge hatte. Aber man musste denen dort drüben helfen, ihren Weg zu finden. Nur, ob ich dafür die geeignete Person war, darüber war ich im Zweifel, und ich verbrachte schlaflose Nächte bis zum Termin des Zusammentreffens, den mir das Sekretariat des Deutschen Theaters vermittelt hatte.
Die erste Begegnung mit dem Mann war unkomplizierter, als ich sie mir vorgestellt hatte.
Er war in Begleitung einer jungen Frau, die er mir als eine Enkelin Stalins vorstellte. Er nannte mir ihren Namen, den ich mir in der Aufregung leider nicht merkte, und als ich mich später vergewissern wollte, ob das mit der Enkelin stimmte, wusste ich nicht, welchen Namen ich nachschlagen sollte. Daher bin ich mir bis heute unsicher darüber geblieben, ob seine Auskunft stimmte oder ob er mir nur einen Bären aufbinden wollte. Denn, dass ihm ein Schalk im Nacken saß, das war auf Anhieb zu bemerken. Ein Mann von schlanker Gestalt kam mir entgegen, ein beinahe jünglingshaft wirkender Vierzigjähriger mit blondem zum Pony geschnittenem Haar, das die obere Stirn bedeckte. Wahrscheinlich verbarg er damit eine beginnende Glatze, worauf ich damals allerdings nicht achtete. Denn Einzelheiten seines Aussehens sind mir kaum haftengeblieben, sie verschmolzen später mit den in der Öffentlichkeit bekannten Bildern und bestimmen den Gesamteindruck, der mir blieb. Dazu gehört das von vielen Fältchen durchzogene Gesicht, eine deutlich gezeichnete lebhafte Physiognomie. Die Mimik verriet den überaus unruhigen Geist, den widerspruchsvollen Charakter. Lebhaftigkeit bestimmte auch seinen gestischen Habitus, selten nur, dass er in einer Geste länger verharrte. Erstarrung war etwas, was es für ihn nicht zu geben schien. H. M. E. kam mir freundlich im Raum entgegen, drückte mir die Hand, war zuvorkommend und höflich, schob mir den Stuhl zurecht, der für mich herbeigeholt worden war. Leicht ließ ich mich von so viel Zuvorkommenheit beeindrucken, aber ich sollte auf der Hut sein, sagte ich mir, durfte innerlich nicht abrüsten. Denn ich fürchtete seinen Sarkasmus und seine Ironie, ahnte, dass mit ihm nicht immer gut Kirschen essen war, wie es der Volksmund ausdrückt. Er war agil und zu gescheit, um irgend jemandem eine Schwäche durchgehen zu lassen.
Ob er meine Unsicherheit spürte, weiß ich nicht. Überhaupt wird er sich an mich und an die mir so wesentliche Begegnung nicht erinnern. Eher nehme ich an, dass die unbefangene Lebhaftigkeit und Freundlichkeit, mit der er auf mich zuging, der Rolle entsprach, die er sich für die Anbahnung von Beziehungen öffentlichen Charakters schuldig zu sein glaubte. Jahre später las ich in den Erinnerungen von Alfred Andersch, der den jungen Dichter in den Fünfzigerjahren in der Redaktion Radio-Essay im Stuttgarter SWF gefördert und bekannt gemacht hatte, dass es für H. M. E. später für so Unnützes wie ein zweckfreies Gespräch unter Kollegen keine Zeit mehr gegeben habe. Auch teilt uns Andersch mit, dass der damals junge Dichter, den er bei Erscheinen seines ersten Gedichtbandes enthusiastisch gefeiert hatte, der erste gewesen sei, der seine zornigen Verse auf einer elektrischen Schreibmaschine schrieb. Später brachte er auch Alfred Andersch dazu, auf solches Gerät umzurüsten, als der, von Krankheit geschwächt, um seine Arbeitskraft rang. Vielleicht hat er 1970, als wir uns im Deutschen Theater, in der Hauptstadt der DDR, begegneten, schon mit einem PC gearbeitet, wenn es ihn denn schon gegeben hat. Aber danach zu fragen, wäre mir nicht eingefallen. Vor Kurzem erst, dreißig Jahre nach unserer Begegnung, sah ich ihn gealtert auf dem Bildschirm bei einem Podiumsgespräch, das die ARD übertrug. Mit linksgescheiteltem schütterem Haar erschien er mir jetzt als eine überaus korrekte Erscheinung. Verwundert war ich, dass er unablässig rauchte, das war mir verborgen geblieben, oder aber es gehörte damals nicht zu seinen Gewohnheiten. Ja, der Zorn verfliegt, aber die Ironie bleibt, dachte ich in Anspielung auf Worte, die Alfred Andersch über den Dichter geäußert hatte. Noch immer sah man ihn lebhaft reden und schlüssig argumentieren.
Damals brachte ich in die Redaktion eine Verabredung für ein Interview mit. Es konnte erst nach größerem zeitlichen Abstand stattfinden, weil der Dichter zuvor noch auf Reisen ging. Nein, die Fragen, die wir an ihn hatten, wollte er vor unserem Treffen nicht einsehen, denn er war daran gewöhnt, ad hoc zu reagieren. Im Mittelpunkt unseres Gesprächs sollte sein Bühnenstück „Verhör von Habana“ stehen, das im September 1970 im Deutschen Theater unter der Regie von Manfred Wekwerth Premiere haben würde.
Monate nach der ersten Begegnung ging ich gut präpariert zu unserem neuen Treffen, das in der Wohnung der Chefin stattfand, die ebenfalls zugegen war. Während ich mich an die Szenerie erinnere, wundere ich mich, warum wir an diesem Ort in Lichtenberg zusammenkamen, aber es war damals ihr ausdrücklicher Wunsch und ich sah keinen Grund, ihn nicht zu akzeptieren, obwohl ich an den Club der Kulturschaffenden als Treffpunkt gedacht hatte. Wir saßen in einem mit Bücherregalen vollgestellten Arbeitszimmer und tranken Tee. Während er Platz nahm, machte er eine Bemerkung darüber, dass die Leute hier augenscheinlich gewohnt seien, viele Bücher zu lesen. Wir sahen darin eine Anspielung auf das gerade proklamierte „Leseland DDR“, was aber gar nicht zutreffen musste, weil er über die DDR wenig Bescheid gewusst haben will, wie man später, nach ihrem Zusammenbruch, von ihm hören konnte. Daher ist es wahrscheinlicher, dass er mit seiner Bemerkung auf die im „Kursbuch“ vertretenen Thesen vom Tod der Literatur anspielte. Denn die waren damals in aller Munde. Für Beileidsbekundungen zu ihrem Ableben war das „Kursbuch“ inzwischen zu einer sprichwörtlichen Zuschreibungsadresse geworden, worauf Enzensberger als Herausgeber der Zeitschrift wohl anspielte. Obwohl solche radikalen Thesen nicht von ihm stammten, hatte auch er literarische Produzenten aufgefordert,