Rückblicke
Merkwürdig ist, dass meine Erinnerung an die Gesprächssituation mit dem, was schwarz auf weiß als Interview überliefert ist, nicht recht zusammengeht. Das wird mir bei der neuerlichen Lektüre bewusst, und ich frage mich, woran das liegt. Wahrscheinlich, vermute ich, hängt es damit zusammen, dass mir im Gedächtnis vielerlei wach wird, wenn ich den Namen Hans Magnus Enzensberger aufrufe. Alles, was ich die Jahre danach von und über ihn gelesen habe, ist in meine Vorstellung eingegangen.
Hans Magnus Enzensberger war damals ein wichtiger Protagonist des linken Zeitgeistes. Als kritischer Beobachter und Zeitzeuge hat er Studentenbewegung und außerparlamentarische Opposition mitgetragen und kritisch begleitet. Er trat mit programmatischen Thesen hervor, brachte als Publizist internationale Erfahrungen ein, beteiligte sich an direkten Protesten, besuchte Sit-ins, sprach auf ihnen und anderen Kundgebungen. Politische Aktionen nahm er als Feld neuer gesellschaftlicher Erfahrung wahr, als eine Möglichkeit, Praxis kennenzulernen. Zugleich trat er als deren Kritiker hervor, analysierte und begleitete Programme und Aktionsformen mit prüfenden Randglossen. Dabei blieb er ein Dichter, der politischen Bewegungen nur so weit verpflichtet blieb, wie es die Widersprüche, auch die eigenen zuließen. Seine literarische Produktivität, die sich vor allem an den öffentlichen Angelegenheiten entzündet, entsteht aus den widerspruchsvollen Reibungsflächen der wirklichen Bewegungen. Es sind vielgliedrige Arbeitsfelder, auf denen sich der Dichter bis heute bewegt. Neben der Lyrik sind es Essays zu weitgespannten, sehr verschiedenen gesellschaftlichen Themen, von der Rolle der Bewusstseinsindustrie bis zu den großen Flucht-und Wanderungsbewegungen infolge von Krieg und Bürgerkriegsereignissen in den neunziger Jahren. Dazu kommen Einsprüche zu innen- und außenpolitisches Vorgängen, Hörspiele, Stücke, dokumentarische Biografien und nicht zuletzt die Selbstauskünfte zu verschiedenen Zeiten, die mein heutiges Bild bestimmen.
Im Zentrum meines damaligen Interesses standen neben dem „Verhör von Habana“ das poetische Werk, wie es in „Die Verteidigung der Wölfe“, „Landessprache“ und „Blindenschrift“ vorlag. Dennoch bildet nicht das Gedichte schreiben und die Lyrik den Gegenstand des Gesprächs, sondern die Fragen beziehen sich hauptsächlich auf politische Erfahrungen und Ansichten zur Situation in der Bundesrepublik. Begriff und Umgangsweise mit der Kulturindustrie und den Medien werden im Hinblick auf die Herausbildung eines alternativen Bewusstseins erörtert. Auch Nachfragen zur Funktion der Literatur bewegen sich innerhalb des Diskussionszusammenhangs, wie er damals in der BRD bestand. Dieser rein politische Zuschnitt des gedruckten Gesprächs ist es, der mich überrascht und erstaunt, weil ich es so nicht in Erinnerung habe.
Die Welt von 1970 war eine gänzlich andere als die heutige. Die Aufbruchsstimmung, die sich in unserem Gespräch spiegelt, gründete nicht nur in den Illusionen der Zeitgenossen. Sie hing auch damit zusammen, dass sich mit der Systemkonfrontation nicht nur beide Machtblöcke hochgerüstet gegenüberstanden, sondern sich auch gegenseitig herausforderten und in Schach hielten. Ob dem sozialistischen System zu diesem Zeitpunkt noch tatsächlich alternatives Potenzial zu eigen war, ist im Nachhinein kaum zu entscheiden. Auf jeden Fall erscheint es mir naheliegend, dass seine Existenz für die andere Seite noch als Herausforderung wirkte. Es bildete für die imperialistischen Staaten eine ständige Drohkulisse, vor der die herrschenden Sachwalter handeln mussten. Die DDR saß gewissermaßen mit am Verhandlungstisch der Tarifpartner, was nicht nur der Herausbildung des Sozialstaatssystems in der Bundesrepublik positive Impulse gab. Mit den Veränderungen des gesellschaftlichen Systems in den sechziger Jahren bekam die Sozialdemokratie ihre Chance. Sie eröffnete mit ihrer moderateren Anerkennungspolitik neue Wege, nahm aber auch Impulse der inneren Opposition auf und setzte sie in eine die innere Verfasstheit erneuernde Politik um. Willy Brandts Forderung „Mehr Demokratie wagen“ bringt das auf eine Formel, die nicht nur Veränderungen im öffentlichen Klima anzeigte, sondern auch eine veränderte Stellung der Bürger zum Staat. Sie fand Niederschlag in den Bürgerinitiativen, die sich in den siebziger und Achtzigerjahren in Aktionen gegen den Bau von Atomkraftwerken und neuen Landebahnen, bei Hausbesetzungen und anderen Formen konkreten Engagements formierten. Auch in den Protestformen der Frauenbewegung und später in der Friedensbewegung gegen die Raketennachrüstung zeigten sich solche Formen von realisiertem Einspruch. Hier wurde eine staatsbürgerschaftliche Aktionsform praktiziert, die manches durchsetzen half, die zum Teil bis heute nachwirkt und auch gegenwärtig noch nicht ganz verschwunden ist.
Und nun zu unserem Gespräch: Bemerkenswert beim Wiederlesen ist für mich, dass Enzensberger ganz und gar unprovokativ auf Fragen eingeht, hinter denen sich andere Sichtweisen verbargen. Entgegen seiner sonstigen polemischen Haltung ist er gar nicht auf Konfrontation aus, erörtert eigene Illusionen, die er verabschiedet hat, und unterlässt es, zu widersprechen, obwohl ihn wahrscheinlich manches zum Widerspruch gereizt haben muss. Er ignoriert die siegesgewisse Überlegenheitsattitüde, die in manchen Fragen anklingt, lässt sie unerörtert unter den Tisch fallen. Es wird sich schon zeigen, wer sich vor der Wirklichkeit blamiert, wird er sich gedacht haben.
Beim Lesen steigt mir der Verdacht auf, dass wir vielleicht einiges von seinen Äußerungen aus der gedruckten Fassung getilgt haben, denn ich habe nur eine unbestimmte Erinnerung an das Prozedere der Herstellung. Aber da hätte er sicherlich widersprochen, denke ich. Und es passte auch eigentlich nicht zu unserem Stil. Dazu passte allerdings, dass wir polemische Beiträge organisierten, die wir im Heft neben das gedruckte Gespräch stellten. Diese Artikel folgten allesamt der Prämisse, dass die Wahrheit über gesellschaftliche Verhältnisse bei der Arbeiterklasse und natürlich ihrer führenden Partei zu suchen sei. Sie belegen ihrerseits, wie sehr Enzensbergers Vorstellungen von der Rolle herrschenden Bewusstseins auf die Verhältnisse in der DDR zutrafen. Diese Besserwisserei vom Standpunkt unbeirrbarer Gewissheiten, die sich in diesen Beiträgen findet, verursacht mir beim Wiederlesen peinliche Gefühle. Ich bemerke, dass ich an diesem Punkt meiner Beschreibungen jetzt lieber ins Wir ausweichen möchte. Es ist so gesellig, und man kann sich darin besser verbergen, aber es entlastet mich nicht. Denn ich habe die Sache organisiert, wenn auch im Auftrag, mit dem ich mich damals aber in Übereinstimmung wähnte. Da muss ich es aushalten, wie es ist.
Enzensberger war offensichtlich an einem einvernehmlichen Gespräch interessiert. Er war in guter, dankbarer Stimmung über die Aufführung seines Dokumentarstückes „Das Verhör von Habana“. Er verglich sie mit denen, die es in Westdeutschland gegeben hatte und war angetan von der den gesellschaftlichen Kern freilegenden Inszenierung, die als eine wirkliche Ensembleleistung im Deutschen Theater zu sehen war. Er sah sich mit dem Szenarium dieses Stückes in der Rolle des Geburtshelfers. „Das Verhör von Habana“ stand am Beginn einer Reihe von Arbeiten, bei denen er auf unterschiedliche Weise mit dokumentarischem Material arbeitete. Im Umgang mit Zeugnissen geschichtlicher Ereignisse eröffnete er sich eine Möglichkeit, historisch-politische Vorgänge literarisch zu verarbeiten, sie für den Gebrauch in der Gegenwart anschaubar werden zu lassen. Gegenüber den lyrischen und essayistischen Formen, in denen Subjektivität den Zugriff bestimmt, bot das szenische Geschehen die Möglichkeit, die sozialen Grundlagen individueller Handlungs- und Denkmuster im geschichtlichen Geschehnis darzustellen. Für sein Dokumentarstück nutzte Enzensberger das Protokoll eines öffentlichen Tribunals, auf dem 1962 die kubanischen Revolutionäre die geschlagenen Invasoren über ihre Motive befragten. Die von den USA ausgehaltenen Konterrevolutionäre waren ein Jahr zuvor in der Schweinebucht