Politisches Handeln war den Intellektuellen in der DDR sicherlich nach und nach immer gründlicher von der Führungskaste abgewöhnt worden. Man hielt sich zurück, war befriedigt, wenn sich diese oder jene kritische Äußerung gedruckt fand, den Weg durch die aufsichtsführenden Behörden hindurch genommen hatte. Aber das war es dann auch schon. Und das Jahr 1990 bestätigte das auf erschreckende Weise. Zum politischen Handeln waren die Intellektuellen und Gesellschaftswissenschaftler der DDR nicht fähig, verblieben in Irritation. Werner Mittenzweis „Brockenlegende“ bestätigt auf unbeabsichtigt ironisch-provokative Weise diesen Fakt, wenn er DDR-Intellektuelle mit Erneuerungswillen in der Eiseskälte einsamer Harzregionen sich zusammenfinden und verenden lässt. Lediglich einige in der DDR ausgebildete Naturwissenschaftler, die der politischen Führung nicht nahegestanden hatten, begaben sich in die Politik. Nur wenige blieben dort, und was ihrer Wirkung zu verdanken ist, bleibt ambivalent und noch nicht absehbar.
Lebendige Zeitgenossenschaft
Von meinen früheren Zusammenkünften mit Schriftstellern waren nicht alle nachdrücklich genug, um bis in die Gegenwart mein Interesse wachzuhalten. Aber, obwohl manche Begegnung einmalig blieb, wirkte dennoch das durch sie geweckte Interesse in meiner Lektüre fort. Mit der Erinnerung an solche unterschiedlich nachwirkenden Begegnungen, die hier beschrieben sind, wird in jedem Fall Zeitgenossenschaft aufgerufen. Aus unterschiedlichen Blickpunkten wahrgenommen, spiegelt sich in Gesprächen mit westdeutschen Autoren ein Stück deutsch-deutscher Beziehung und ihrer Geschichte.
Dabei wird sichtbar, was nicht nur für schreibende Zeitgenossen zutrifft und von Adelbert von Chamisso in die Worte gefasst wurde: „Jeder Dichter betrachtet die Welt aus dem Hals der Flasche, in die er eingeschlossen ist.“ Eine Feststellung, die über Dichter hinaus auch für andere Menschen Geltung beanspruchen kann.
Zeitgenossenschaft stellt sich als eine disparate Angelegenheit dar. Die Rückschau auf sie fördert Ungereimtes, Überraschendes zutage, wenn sich ein Schreiber im Gewirr des Zeitgeistes entdeckt. Solcherlei wird beim Lesen hier begegnen. Geduld ist nötig, um die Fäden zu entwirren. Erinnert wird an Begegnungen mit Büchern und ihren Urhebern in einer Art, die anzeigt, wie sie durch den Zeitgeist bestimmt war und ihn ihrerseits mitbildete. Es spiegelt sich so jüngst vergangene Geschichte, denn die, die sich erinnert, lebte in der DDR, dem untergegangenen Staat und die Schriftsteller, über die sie hier berichtet, denen sie begegnete, deren Bücher sie las und über die sie schrieb, lebten im Westen. Seit zwanzig Jahren nun leben wir in einem Staat.
Ein Kapitel deutsch-deutscher Beziehungen ist damit aufgeschlagen. Westdeutsche Autoren wurden in der DDR gedruckt und gelesen, früher noch, als ostdeutsche Autoren von westdeutschen Verlegern gedruckt wurden. Gelesen wurden selbstverständlich auch Bücher, die in der DDR nicht im Buchhandel zu haben waren. Diese Seite der Rezeption von „Westbüchern“ berührt das Kapitel vom geheimen Leser, über das Simone Barck und Siegfried Lokatis variations- und kenntnisreich ein ganzes Buch geschrieben haben. Die öffentliche Rezeptionsgeschichte der westdeutschen Literatur berührt ebenso wie die Geschichte der Aufnahme der DDR-Literatur im Westen die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Teilstaaten. Sie stellt ein umfangreiches Kapitel von deutsch-deutscher Verlagsgeschichte dar, das in seiner wechselseitigen Beziehung noch darzustellen ist. Für die Verlagsgeschichte der DDR wäre die herausgeberische Arbeit der Verlage Aufbau, Kiepenheuer, Reclam u. a. zu betrachten. Nur erst für den Verlag Volk und Welt ist ein Anfang gemacht worden. Viele Leerfelder scheinen hier auf, die zu untersuchen wären.
Meine Erinnerungen wollen und können solche Leerstellen nicht füllen. Sie verbleiben ganz und gar im Subjektiven. Sie zeichnen Annäherung und Distanz im Umgang mit Autoren und ihrem Werk nach. Beschreiben Lektüreeindrücke, hinterfragen frühere Wertungen und Urteile. Es soll der gedankliche Horizont aufscheinen, der die Prämissen der Urteilenden bildete. Ein schwieriges Unterfangen, weil sich die noch Lebenden stets dem Wind der Zeit ausgesetzt sehen, sich verändern oder auch treu bleiben, auf jeden Fall im Zeitgeist zu Hause sind. Und der war ziemlich anders diesseits und jenseits der Mauer. Dabei ist mein Respekt vor der Leistung vieler hier Porträtierter so groß, dass ich den Drang habe, auch als Mittlerin zu wirken. Denn so ganz und gar kann und will ich meine jahrzehntelang ausgeübte Profession denn doch nicht verleugnen. Daher wird es so sein, dass sich die Schere zwischen Erinnertem und Gedachtem und dem, was mir über Schöpfer und ihre Werke mitzuteilen für nötig scheint, nicht in jedem Fall schließen. Die Autoren sind so verschieden wie mein damaliges und mein heutiges Interesse an ihnen. Auch die Anlässe für eine Wiederbegegnung mit ihren Werken unterscheiden sich. Daher kommt so Vielfältiges hier zusammen, von dem ich dennoch hoffe, dass sich ein Widerschein des lebendiges Prozesses darin finden lässt, der unsere Zeitgenossenschaft gestern und heute ausmacht.
Ein Dialog von Ansichten und Gedanken über die Zeit, die wir durchlebt haben und wie sie sich in Büchern von Zeitgenossen spiegelt, so etwas schwebt mir als Struktur für die Niederschrift und Anlage dessen vor, was ich mitzuteilen habe. Dabei geht es mir vor allem auch darum, den eigenen Irrtümern und Illusionen auf die Spur zu kommen.
Hans Magnus Enzensberger. Eine aufregende Begegnung.
Man schrieb das Jahr 1970. Es war Juni und ich hatte erst vor drei Monaten meine Tätigkeit als Redakteurin der Zeitschrift „Weimarer Beiträge“ begonnen. Eines Morgens stürzte die Chefin des Blattes in die Redaktionsräume, die sich in einem schmalen Gebäude am Anfang der Oberwallstraße befanden, nur wenige Meter vom U-Bahn-Eingang Hausvogteiplatz entfernt. Das dreigeschossige Haus stand dort sehr vereinzelt, es gehörte zu den wenigen Gebäuden, die an der linken Ecke des Hausvogteiplatzes stehen geblieben waren. Die Bebauung des ganzen Platzes wies große Lücken auf, sie waren durch die Bombenabwürfe des letzten Krieges gerissen worden. Nur an der Ecke zur Mohren- und Taubenstraße hin war inzwischen ein Neubau entstanden, der aber auch dort den Freiraum nicht füllte, den es gab.
Unsere Redaktion lag im Erdgeschoss des schmalen Gebäudes, während in den oberen Etagen die Redaktion der Wochenzeitung „Sonntag“ und die Werbeabteilung des Aufbau-Verlages untergebracht waren. Aus den Fenstern unserer Redaktion schaute man in Richtung Westen auf den Eingang der U-Bahn Linie, die von Pankow bis Thälmannplatz fuhr, während ich aus meinem Arbeitszimmer in östliche Richtung das Licht der vormittäglichen Sonne erleben und auf Pappeln sehen konnte. Die Bäume vor den Fenstern waren wahrscheinlich in den Jahren seit der großen Zerstörung herangewachsen. Sie standen auf einer Rasenfläche mit Bänken, auf die wir Redakteure uns in der warmen Jahreszeit mittags setzten. Daran grenzte ein ausgedehnter Parkplatz, der zu dem großen Haus gehörte, das in etwa hundert Metern Entfernung zu sehen war. Dort hatte einstmals die Reichsbank residiert, aber zu unserer Zeit war dort der obere Verwaltungsapparat der führenden Partei untergebracht. Wenn ich von meinen Manuskripten aufschaute, aus dem Fenster hinaus, sah ich auf das große Haus. Wir machten Witze darüber, dass die Partei ihre Augen immer überall habe, und lachten gutmütig, weil ja auch wir die Partei waren, fast alle, die wir die Redaktion bildeten. Unsere Chefin ging in dem großen Haus regelmäßig ein und aus und versorgte uns mit den neuesten Informationen aus der Führungsetage der Partei, auf die wir uns einen Reim zu machen suchten. Niemand von uns hätte sich wohl damals vorstellen können, dass in dieses große Haus irgendwann das Außenministerium der Bundesregierung eines vereinigten Deutschlands einziehen und unser schäbiges Gebäude nach gründlicher Sanierung Sitz der Botschaft des Königreichs Marokko sein würde.
Also eines schönen Tages im Juni stürzte die Chefredakteurin wie gewohnt gegen Mittag in die Redaktion. Zu dieser Tageszeit hatte sie ihre Informationsrunde hinter sich und versorgte uns sofort mit den neuesten Nachrichten. Wenn wir unter uns waren, nannten wir Redakteure sie Chefin, ansonsten riefen wir uns bei unseren Vornamen. Sie unterrichtete uns, dass der Dichter Hans Magnus Enzensberger für morgen im Deutschen Theater zu Besprechungen erwartet würde. Man plante dort, im Herbst sein Stück „Das Verhör von Habana“ aufzuführen. Wir sollten uns unbedingt an ihn heranmachen und ein Interview vereinbaren, eine solche Gelegenheit gebe es nicht jeden Tag und zudem stehe unserer Zeitschrift ein solches Gespräch, wenn es denn zustande käme, gut an. Denn gerade hatten wir eine neue Rubrik eröffnet, die den akademischen Habitus der „Weimarer Beiträge“