Seinerzeit glaubte ich jedes Wort,
das ich schrieb, und ich schrieb
und ich schrieb am Untergang der Titanic.
Es war ein gutes Gedicht.
...
Wie angenehm war es, arglos zu sein!
Ich wollte nicht wahrhaben,
dass das tropische Fest schon zu Ende war.
(Was für ein Fest? Es war nur die Not,
Du blutiger Laie, und die Notwendigkeit.)
...
Damals hatte ich recht.
Untergegangen ist damals
Weiter nichts als mein Gedicht.
Über den Untergang der Titanic.
Es war ein Gedicht ohne Durchschlag,
in ein schwarzes Wachstuchheft
mit Bleistift geschrieben,
weil in ganz Cuba damals
kein Kohlepapier zu finden war.
Diese Ebene nimmt er im neunundzwanzigsten Gesang wieder auf und führt sie weiter. Es heißt dort:
Um aber auf das Ende zurückzukommen: Damals glaubten wir noch daran (Wer: „Wir“?) -
Als gäbe es etwas, das ganz und gar unterginge,
spurlos verschwände, schattenlos,
abschaffbar wäre ein für allemal,
ohne, wie üblich, Reste zu hinterlassen
(die sattsam bekannten
„Überreste der Vergangenheit“)
Auch eine Spielart der Zuversicht!
Wir glaubten noch an ein Ende, damals
(wann: „Damals“? 1912 ? 18 ? 45 ? 68 ?),
und das heißt: an einen Anfang.
Aber inzwischen wissen wir:
Das Dinner geht weiter.
Im Kontext dieses lyrischen Werks nimmt Enzensberger auch die Dispute um die Rolle von Literatur wieder auf. Dabei vermeidet er nun konkrete funktionale Zuschreibungen, apostrophiert Literatur als Funktion im gesellschaftlichen Lebensprozess und relativiert dabei Vorstellungen ihrer möglichen Wirkungskraft.
Weitere Gründe dafür, dass die Dichter lügen.
Weil der Augenblick,
in dem das Wort glücklich
ausgesprochen wird,
niemals der glückliche Augenblick ist.
Weil der Verdurstende seinen Durst
Nicht über die Lippen bringt.
Weil im Munde der Arbeiterklasse
Das Wort Arbeiterklasse nicht vorkommt.
Aus der erkenntnistheoretischen Prämisse, dass Literatur gegenüber der Wirklichkeit eine abbildende Funktion besitzt, folgt nun weder ihre Verdächtigung als Handlungsersatz noch die völlige Negation ihrer Möglichkeiten. Enzensberger arbeitet weiterhin daran, sich der Sinnhaftigkeit eigener Produktion zu versichern. Literatur bleibt für ihn ein Instrument gesellschaftlicher Selbstverständigung, mit dem für Menschen Belangvolles öffentlich gemacht und die Angelegenheiten vieler beredet werden können, denen dafür die Sprache fehlt. Dabei bleibt sie niemals unabhängig von den Widersprüchen, in denen sich ihre Urheber bewegen.
Weil es die Lebenden sind,
die den Toten in den Ohren liegen
mit ihren Schreckensnachrichten.
Weil die Worte zu spät kommen,
oder zu früh.
Weil es also ein anderer ist,
immer ein anderer, der da redet,
und weil der,
von dem die Rede ist,
schweigt.
In Selbstauskünften räumt Enzensberger stets ein, dass er sich zum Erzähler nicht berufen fühlt. Gedicht und Essay sind seine eigentlichen Felder, wobei er die Genregrenzen verwischt und überschreitet. Durch Montage vielfältigen Materials lässt er geschichtliche Spannungsbögen aufscheinen, an denen die lyrische Subjektivität arbeitet und sich reibt. So weitet er die Grenzen lyrischer Aussagemöglichkeiten, während er sich mit seinen dokumentarischen Prosaarbeiten im Grenzbereich zur Fiktion bewegt. Dem Dokumentarstück „Verhör von Habana“, einer aus Protokollen gewonnenen Bühnenfassung, folgten dokumentarische Prosaarbeiten unterschiedlichen Typs. Die Zitatmontage „Der kurze Sommer der Anarchie“ (1972) bezeichnet der Autor als Roman, während er mit „Der Weg ins Freie“ (1975) Lebenszeugnisse von Namenlosen überliefert, die ohne ihn keine Stimme hätten. Im lakonischen Selbstbericht gibt er ihnen Worte, um über Herkunft und Existenzbedingungen zu berichten, woraus bewegende Dokumente über Lebenswege entstehen. Ein kubanischer Landarbeiter schildert, wie er zum Revolutionär wird, eine einfache kubanische Frau lässt ihre Lebensumstände lebendig werden, ein Soldat der chinesischen Roten Armee erzählt vom langen Marsch und ein italienischer Junge, der in seiner Umgebung als schwachsinnig galt, bekennt, wie er sein Leben in die eigenen Hände nimmt, während ein spanischer Anarchist von den Kämpfen seines Lebens zeugt. Es sind sämtlich Lebenswege, in denen Menschen trotz widriger Umstände sich ihrer selbst bewusst werden. Als Geburtshelfer solcher Berichte von unauffälligen Menschen will Enzensberger die mündliche Mitteilungsform wiederbeleben. Er will ihr gegenüber institutionalisierter Kommunikationsform Geltung verschaffen.
Mit der Genrebezeichnung Roman für die Zitatmontage „Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod“ (1972), reagierte der Autor nicht zuletzt auch auf die falschen Alternativen, von denen die Diskussionen um dokumentarische oder fiktionale Literatur, um Fakt oder Fiktion bestimmt waren. Mit seinem Verfahren führt er die Vorstellung ad absurdum, dass dokumentarische Literatur gegenüber fiktionalen Textformen in jedem Fall die Wirklichkeit authentisch zur Sprache bringen würde. Er hinterfragt entschieden die Kategorie der Objektivität, indem er die überlieferten Dokumente und Aussagen so montiert, dass in ihnen der Widerspruchsgehalt der wirklichen Vorgänge deutlich wird. Objektivitätsansprüche erscheinen so als fragwürdig. Zu seiner Arbeitsmethode heißt es: „Der Nacherzähler hat weggelassen, übersetzt, geschnitten und montiert und in das Ensemble der Fiktionen, die er fand, seine eigene Fiktion eingebracht, mit voller Absicht und vielleicht wider Willen; nur dass diese eben darin ihr Recht hat, dass sie den anderen das ihre lässt.“
Die Enzensbergersche Version über Leben und Tod des spanischen Anarchistenführers ist neben dem Interesse am spanischen Anarchismus auch von zeitgenössischen Diskussionen und politischen Erfahrungen in der Studentenbewegung angeregt, vor allem von den Fraktionskämpfen in ihrer auslaufenden Endphase. Zugleich wird seine Sicht auf die anarchistische Bewegung durch die Kenntnis und die Kritik an der verbürokratisierten kommunistischen Parteienpraxis mitbestimmt.
Aus z. T. sich widersprechenden Aussagen rekonstruiert Enzensberger in zwölf Kapiteln Stationen aus dem Leben Durrutis, erzählt von der Teilnahme des gelernten Mechanikers an den sozialen Kämpfen in seiner Heimatstadt, von seinem Anteil bei der Organisation der Selbstverteidigung der Arbeiter gegen den Terror der Bourgeoisie, von den Jahren im französischen und südamerikanischen Exil, von Durrutis Rolle in den revolutionären Erhebungen in Andalusien, Kastilien und Katalonien in den Jahren der Republik. Beim Feldzug gegen den Putsch der faschistischen Generäle in Barcelona wächst er schließlich zu einem kompetenten politischen und militärischen Führer heran,