In einem Kittel, dessen Identität nur noch an einer Reihe von verwaist herumhängenden Knöpfen und in den Halsbereich verschlagenen, in Stücken zusammenhängenden Stoffresten auszumachen war, steckte ein offenbar weibliches Wesen von so abgrundtiefer Feistigkeit, dass Paul bei seinem Anblick ein Schwindelgefühl überkam. Er hatte den Eindruck, von diesem Berg aus Fleisch und Fett aufgesogen zu werden. Bei aller Hässlichkeit übte dieses Weib doch eine merkwürdige Faszination auf ihn aus, die er als sinnlich zu bezeichnen, sich nicht gewagt hätte. Da war ein Kopf, übergangslos aufgesetzt auf einen nach allen Richtungen wuchernden Leib. Kurz unterhalb der Schultern fingen zwei Brüste an, sich maßlos in die vordere Leibessphäre vorzudrängen. Die Brüste wurden von ihrem Bauch bei jedem Atemzug angehoben. Der waberte wie ein Schiffsrumpf bei hoher See in schlingerndem Auf und Ab. Jede dieser Atemböen rief Wellen von Fett hervor, die den ganzen Körper in ein ständiges Vibrieren versetzten. Paul konnte ihren Leibesumfang schwerlich mit einem Blick erfassen. Ihre Unförmigkeit, die jeglicher ästhetischen Konzession Hohn sprach, strahlte etwas Animalisches aus. Die maternale Leiblichkeit einer prallen Sau, die stoisch ihren Jungen die Zitzen hinhängt. Das Tierhafte wurde noch durch ihre Beine unterstrichen, die unter den Kittelfetzen hervor staksten. Die Schenkel waren von solch einer Fülle, dass Paul sich jede weitere Wahrnehmung verbat. In sinnloser Einfalt hatte sie ein paar Nylonstrümpfe darüber gezogen, durch deren Löcher sich handtellergroße Fettbürzel wölbten. Die Füße steckten in zwei kahnförmigen, zerfransten Gummilatschen, deren schiefergraue Farbe und zerschundener Zustand darauf schließen ließ, dass offensichtlich unzählige Laugengüsse ihre einstige Form in einen Zustand totaler Verwahrlosung reduziert hatten. Paul ahnte: »Dies war der Geist, der die Abbeizarbeit verrichtete, der den Schränken und Stühlen, den Truhen und Vitrinen ihren altersschwachen Lack entriss und sie bloß legte bis aufs Fleisch, dessen Verletzungen später nur mit größtem Aufwand und der Hingabe eines begeisterten Sammlers geheilt werden konnten.«
Der Geist dünstete penetranten Soda Gestank aus.
»Den nicht«, und dann packte sie den Schrank mit ihren in rosafarbenen Gummihandschuhen steckenden Händen und schob ihn rücklings wie einen Betrunkenen, der aus der Kneipe bugsiert wird, in die Halle zurück. Wölffler, der kein Wort von sich gegeben hatte, ließ die Luft zwischen den Zähnen ab, was ihm das Aussehen eines wasserspeienden Zierbrunnen Löwen gab.
»Sie hat ihn vor zwei Monaten bearbeitet, und ausgerechnet den muss sie sich für ihre Küche aussuchen. Da stehen tausend andere Schränke herum. Aber nein, der erinnert sie an ihre Kindheit. Dass ich nicht lache, als wenn die jemals eine Kindheit gehabt hätte«, flüsterte er Alex und Paul zu, die versucht hatten, sich hinter dem Schrank zu verstecken. Wölffler schien verzweifelt darüber, dass ihm gerade ein gutes Geschäft durch die Lappen zu gehen drohte.
»Kommt im Dunklen noch einmal wieder, die hat einen festen Schlaf. Das Abbeißen macht saumüde. « Dann nahm er ein Stück Holz vom Boden auf und schleuderte es wie nach einem Hund, den man zum Apportieren auffordert, in die Richtung, in der sie davon gewatschelt war. »Ob sie verheiratet sind, weiß ich nicht«, sagte Alex zu Paul, dem er offenbar beim Verlassen des Hofes die Frage von den Augen abgelesen hatte. »Jedenfalls haben sie zusammen einen Stall voller Kinder.«
Paul und Alex rollten am Abend mit abgestelltem Motor und ausgeschalteten Scheinwerfern in den Hof. Wölffler wartete schon auf sie. Den Hund hielt er dicht bei Fuß. Da die Nacht sternklar war, und der Mond fast seine Vollendung erreicht hatte, konnten sie genug sehen. Der Allgäuer stand wie ein verwaistes Schaf, das sich von seiner Herde entfernt hatte, vor dem Scheunentor. Wölffler hatte ihn vorsorglich dorthin bugsiert. Alles andere war Routinesache von einer Viertelstunde. Ein Stapel Wolldecken wurde auf den Anhänger gelegt, eine Plastikplane um den Schrank gewickelt, der rücklings auf dem Anhänger zu liegen kam. Alex unterlegte zwei dicke Taue mit Wolldecken, um den Schrank beim Festzurren nicht zu verletzen. Nachdem ein Fünfhunderter den Besitzer gewechselt hatte, rumpelte der Wagen mit dem zierlichen Allgäuer gen Norden.
Paul erinnerte sich, dass Alex unterwegs auf der Autobahn mindestens zweimal um eine Pinkelpause gebeten hatte. Er sah Alex’ Silhouette am Parkplatzrand vor der fahlen Mondscheibe stehen. Sein Urinstrahl schlug einen romanischen Bogen im milchigen Licht. Sie erreichten um Mitternacht Pauls Haus. Da sie zu müde waren, um den Schrank noch abzuladen, ließen sie ihn unter der Plastikplane versteckt bis zum nächsten Morgen auf dem Anhänger liegen.
— Paul hatte lange unter dem Tisch ausgeharrt und auf den Allgäuer gestarrt. Langsam erhob er sich und ging zu dem Schrank hinüber, öffnete die Flügeltüren und legte die Toccata und Fuge in D Moll von J.S. Bach auf. Aus dem oberfränkischen Möbelstück klang die mächtige Orgelmusik zu Paul herüber. Quer vor dem Schrank liegend, dachte er über Barbaras Absage nach.
Kapitel 8
milchflor vor den scheiben/ heiterkeit beim flick-schuster/ an den mühsalen des alltags gelitten/ summ summ der muskeln und sehnen/ grüße vom rosaroten panther/ wie in einem spiegel/
Die Februartage zogen sich hin, belanglos und ohne Fassung. Paul konnte schon morgens das gemächliche Schlurfen des Lichtes hören, wie es sich mühsam durch die nebelverhangenen Morgenstunden quälte. Der beständige Milchflor vor den Scheiben und das nie enden wollende Heller Werden zermürbten ihn. Er fühlte sich dahin bröseln. Für den Mai hatte er seine Reise angesetzt.
An diesem Morgen verspürte er beim Aufstehen einen trockenen Geschmack im Mund, eine Mischung von Rohpausen halbvergessener Träume der vergangenen Nacht, unterlegt vom Nachgeschmack des Rotweines aus dem Sonderangebot, den er am Vorabend getrunken hatte. Er versuchte, sich an die Träume zu erinnern. Sein Bilderarchiv klemmte. Ihm fielen nur Fetzen von hektischen Gestalten ein, die über ein Gräberfeld liefen, und eine Art Fangenspiel veranstalteten. Das Ganze war begleitet von dem Gefühl großer Unruhe. Seine Reisepläne schienen in weite Ferne gerückt, als hätten sie sich mit der winterlichen Nässe und Kälte klamm heimlich davongeschlichen.
Pauls taumelnder Gang führte ihn zum Waschbecken, das herausfordernd, als habe es Zweifel an seiner Existenz, an der Wand hing. Er blickte in den Spiegel und sah sein noch Schlaf verstörtes Gesicht vor sich. In ihm keimte der Verdacht auf, dass die Gestalt ihm gegenüber nicht er selbst sein könne. Dabei verirrte sich ein Lächeln auf seine Lippen, weil ihm dieser Spruch bekannt vorkam. Dieser schizoide Zustand hielt für die Dauer eines Wimpern Schlages an. Durch ein schiefes Lächeln aus den Mundwinkeln heraus, begleitet von einem kräftigen Schnäuzen, gelang es ihm, den Zustand zu beenden. Mit Schlägen von kaltem Wasser ins Gesicht zwang er sich in seine Haut zurück. Dieses morgendliche Wasch- und Weckritual leitete jeweils die entscheidende Phase ein, in der sich Wohl und Wehe des kommenden Tages entschied. Gelang es ihm nicht, durch das eiskalte Wachrütteln in seiner Hülle wieder Fuß zu fassen, dann verharrte er den ganzen Tag über in einer schwebenden Benommenheit. Sein Gang blieb taumelig, seine Bewegungen Schwindel durchwirkt. Paul versuchte, mit einiger Routine Techniken zu entwickeln, die ihm an solchen Tagen halfen, wenigstens nach außen hin den Anschein einer vertretbaren Zuverlässigkeit zu vermitteln. Sah man ihn sich jedoch genauer an, war in jeder seiner Äußerungen eine schnell ermattende Aufmerksamkeit zu spüren. Er selbst hatte den Eindruck eines dumpfen Sensibilität Verlustes, der kein Sinnesorgan aussparte, und seine Stimme klang wie mit Grünspan belegt.
Eine kurze Hinwendung im Gespräch zu Alex, schon umgab ihn wieder eine klamme Benommenheit. Manch-mal schien er daraus aufzuwachen. Dann blickte er sich verwundert um, zwang sich für eine Weile anwesend zu sein, um nach einem solchen Ausflug von Wachheit wieder in sich zurückzugleiten. Der einzige Ausweg aus solchen Tagen heil herauszukommen, war für ihn, sich in irgendeine heftige Beschäftigung zu stürzen, in eine Art belanglosen Aktionismus, der sich manchmal darin austobte, dass er Unterlagen auf dem Schreibtisch von einem Platz zum anderen bewegte, Kopien sortierte oder versuchte, sich in die Literaturberge, die sich auf seinem Schreibtisch häuften, einzuarbeiten. Meistens kam er jedoch nicht über die Inhaltsangaben hinaus.
Nach einem solchen Tag, angefüllt mit flüchtigen Gesprächen,