Immer wenn Paul das Leben dieses Mannes betrachtete, das seine zweite Frau Olga in Form einer Biographie, deren blauer Rücken eines seiner Zeichen im Bücherregal war, in liebevoller Weise nachgezeichnet hatte, wunderte er sich über die Hast des Schicksals. Den jungen Menschen der damaligen Zeit, die gerade einmal etwas mehr als hundert Jahre vorbei war, schien es offenbar nicht vergönnt gewesen zu sein, sich in Ruhe zu finden und heranzureifen. Wie wenn das Leben auf einen kurzen Zeitraum komprimiert, alle Varianten des Glücks und des Leids in kurzer Folge abhaken musste, kam Paul das Stakkato von Schicksalsschlägen vor, die Elie trafen. Er fragte sich oft, ob die Menschen damals eine andere Sensibilität besessen haben; größere Reserven des Erduldens und Erleidens oder auch nur einen betäubenden Gleichmut gegenüber dem Unabwendbaren, der ihnen beim Überleben hilfreich war.
Metchnikoffs Schicksal belehrte ihn eines Besseren und machte Paul zu seinem heimlichen Verbündeten.
»Mit seiner kranken Frau zog Elie nach Spezzia in Italien. Ein Jahr später ging er zurück nach Odessa und nahm hier die Position eines Professors an. Ludmilla war zu krank, um ihrem Mann eine Absage zu erteilen. Sie ging mit ihm nach Russland zurück. Von der italienischen Sonne hatten sie sich Heilung erhofft, hatten darauf erwartet, dass das ständige Hüsteln und die Schmerzen beim Durchatmen aufhören würden. Vergeblich, denn Ludmillas Leiden verstärkte sich noch unter dem rauen Klima Odessas, und die Tuberkulose blühte endgültig auf. Das Paar reiste daraufhin noch einmal mit letzten Hoffnungen in den Süden Europas, nach Madeira, denn es war die Rede, dass das milde Inselklima Wunderheilungen bei Tuberkulose-Kranken vollbringen könnte. Die Hoffnungen waren umsonst. Der Zustand von Ludmilla verschlechterte sich von Tag zu Tag. Schließlich starb sie, nachdem sie gerade vier Jahre verheiratet waren, im April 1873. «
Wo blieb in einem solchen Leben Zeit für Routine, für die morgendlichen Abnabelungsrituale am gemeinsamen Frühstückstisch, die murrenden Hilfestellungen bei gemeinschaftlichen Alltagsverrichtungen? Entweder war der Umgang formal legitimiert. Liebe durch die gesellschaftlichen Konventionen zu einem höflichen Nebeneinander bereinigt, oder hinter diesen brambäsigen Bärten und geschnür-ten Korsetten steckte doch mehr als nur das höfliche »Mein Herr Gemahl …. « und »meine Frau Gemahlin …. «. Vielleicht gab es auch damals nichts anderes als die Sehnsucht nach der großen Erlösung, die imstande sein sollte, jeden Aufmüpfigen mit der Verheißung in Schach zu halten, dass eines Tages das unvermeidliche Glück einkehren würde? Im stillen Glanz einer innigen Umarmung und der unwiderlegbaren Versicherung, dass dieser eine Moment für immer wäre?
»Nach dem Tod von Ludmilla ging Elie nach Genf, wo sein Bruder lebte. Die heitere Atmosphäre der Stadt am See mit ihren weiten Parks und den noblen Villen, die sich wie gebleichte Perlschnüre am Ufer des Sees entlang reihten, half ihm nicht aus seiner Verzweiflung. Was sollte er schon tun zwischen all dieser morbiden Heiterkeit und der zwanghaften Verspieltheit einer Zeit, die außer dem zulässigen Dekorativen nur eines erlaubte, Haltung zu bewahren oder sich zu vergessen. Elie nahm sich des Letzteren an. Er versuchte, sich mit Morphium umzubringen. Zum Glück für die Zukunft der Fresszellen hatte er aber, ob aus Unwissenheit oder Absicht ist nicht klar, die Dosis zu niedrig angesetzt. Schließlich war er kein Pharmakologe, und sein Umgang mit Giften beschränkte sich auf die wenigen Reagenzien, die er zum Fixieren seiner Tierchen brauchte. Er wachte nach einem langen, tiefen Morphin Schlaf, der ihn nur an den Rand des Todes geführt hatte, wieder auf. Es wird berichtet, dass ihn ein paar Fliegen, die sich ihre Flügel an einem aufgestellten Kerzenlicht verbrannt hatten, durch ihr jämmerliches Kreiseln auf der blank polierten Platte des Nachttisches in die Wirklichkeit des Lebens zurückgeholt hatten.«
Kapitel 11
schminkstifte und andere utensilien/ im fahrstuhl von schattenbildern verfolgt/ jonas/ in der not seines körpers gefangen/ ein flagellant am abgrund/ amen und kein ende/ viel mehr zu sagen als sprachlos zu sein/
Paul verließ sein Arbeitszimmer, nachdem er die Anfor-derungskarten mit den Anfragen nach Sonderdrucken seiner Publikationen sortiert hatte, um mit dem Fahrstuhl in den Keller zu fahren. Für das kommende Wintersemester musste er den Sektionskurs organisieren. Alex hatte ihm Schminkstifte besorgt, mit denen er die Linien für die Hautschnitte auf den Leichen vorzeichnen wollte. Einige Male hatte er es mit wasserlöslichen und wasserunlöslichen Filzschreibern probiert. Die wasserlöslichen lösten sich innerhalb weniger Stunden von der Haut ab, da die Leichen ständig mit feuchten Tüchern vor dem Austrocknen geschützt werden mussten. Die unlöslichen wurden von der Haut erst gar nicht angenommen.
»Schminkstifte natürlich«, war Alex’ Antwort gewesen, als sich Paul Hilfe suchend an ihn gewandt hatte. Er bat Alex, ihm einen Satz Schminkstifte zum Austesten mitzubringen. In seinem Hang zum Dekorativen hatte Alex auf der Suche nach hautverträglichen Farben, die er unverfänglich in größeren Mengen einkaufen konnte, ohne als Tunte verkannt zu werden, sämtliche Dekorationsgeschäfte der Stadt aufgesucht. Direkt gegenüber dem Stadttheater war er fündig geworden. Neben zentnerschweren Rollen von Wachstüchern, Weihnachtssternen und Regalen voller Pappbögen, Körben mit Plastikobst und Lebensmittelimitaten, von der angeschnittenen Blutwurst bis zum naturecht aussehenden Hamburger, hatte er ein Kabinett entdeckt, das die herrlichsten Schminkstifte in allen Farben der Jahreszeiten beherbergte. Paul händigte er nur die roten und blauen Stifte aus. Sich selbst versorgte er mit einer ganzen Sammlung von Schachteln, wovon jede einzelne jeweils die unterschiedlichsten Nuancen eines Farbtones enthielt. In Mußestunden pflegte sich Alex abends vor den Spiegel seines Badezimmers zu stellen und die Stifte der Reihe nach auszuprobieren. Dann legte er auf die Augenlider einen schweren blauen Nachtschattenton und bemalte die Wangen mit einem tiefen Scharlachrot, so dass sie die Farbe der aufgehenden Sonne annahmen. Paul hatte er die Stifte mit der Bemerkung überreicht, es sei den Kadavern wohl egal, ob sie die Wangen eines fiebrigen Romeos zum Erglühen bringen würden oder auf der kalten Haut einer früh verstorbenen Julia die Schnittlinien für die Skalpelle der Studenten markierten. Damit hatte er wohl auf die Lage des Ladens gegenüber dem Schauspielhaus anspielen und die Zweckentfremdung der Schminkstifte ironisch kommentieren wollen. Paul musste beim Gedanken an Alex‘ Bemerkung lächeln. Nur Romeo und Julia dieses tragische, ultimative Liebespaar brachten seine Gedanken wieder auf den armen Metchnikoff zurück. Der verliebte sich kurz nach Ludmillas Tod, nachdem er nach Odessa zurückgekehrt war, und heiratete bald darauf die fast fünfzehn Jahre jüngere Olga. Beinahe noch ein Teenager, mit einer robusten Konstitution versehen, bemühte sie sich, den gemütslabilen Mann in Zeiten seiner Krisen zu stützen. Aber auch Olga konnte aus ihm keinen neuen Menschen machen. Sechs Jahre nach ihrer Heirat, in einer desperaten Verfassung, überarbeitet, müde, hypochondrisch auf eine Herzkrankheit fixiert, unternahm er seinen zweiten Selbstmordversuch.
Im Fahrstuhl erinnerte sich Paul an einen ähnlichen Zustand, zehn Jahre zuvor, als sein Sohn gestorben war:
Noch entziehen sich die Bilder seinem rückwärtsgewandten Blick. Doch als der Fahrstuhl mit einem Ruck nach unten beschleunigt, ist plötzlich auch das Gefühl großen Unglücks gegenwärtig. Es hat sich in seinem Inneren freigemacht wie die Silhouette des Mondes, die hinter einer dunklen Wolke auftaucht. Zum Glück ist er allein im Fahrstuhl, und niemand kann sein Gesicht sehen, das sich als fahle Erscheinung in der verchromten Fahrstuhltür widerspiegelt. In diesen wenigen Sekunden, in denen er zwischen dem sechsten Stockwerk des Institutsgebäudes und dem Kellergeschoss schwebt, durchlebt er das ganze damalige Elend von neuem. Jede Episode des wenige Stunden dauernden Dramas ist von einer Galerie von Standbildern begleitet, die zwischen den Stockwerken wechseln, und in die einzelnen Bilder sind Gefühle eingraviert, die die Konturen seiner Erinnerungen schmerzhaft nachzeichnen. Während die Gestalten und Figuren unscharf bleiben, erkennt er immer wieder sich selbst inmitten einer wuchernden Hoffnungslosigkeit, die ihm die Sprache genommen und zur stummen Selbstvergessenheit getrieben hatte.
Jonas war gerade sieben Jahre alt geworden. Seine Züge trugen die unwirkliche Blässe eines sensiblen,