Man liegt sicherlich richtig, wenn man Pauls damaligen Zustand als den einer latenten Depression bezeichnen würde. Der freundschaftliche Rat, sich in therapeutische Behandlung zu begeben, wäre ihm jedoch wie ein mutwilliger Eingriff in seine Intimsphäre vorgekommen. Auch Paul hätte die Diagnose bejaht, hatte er sich doch als ausgebildeter Mediziner während seines Studiums die Grundregeln seelischer Befindlichkeiten kennen gelernt. Auf eine fatale Weise kannte er sich in den unteren Etagen seiner Gefühlswelt so gut aus, dass er sich darin fast heimisch fühlte. Die Warnung wäre fruchtlos geblieben.
Alex, der Pauls Zerstreutheit mit Sorge verfolgte, hielt sich zurück. Zu sehr beschäftigten ihn seine eigenen Probleme. Gelegentliche Ausflüge von Heiterkeit und die Aussicht, den bleichgesichtigen, mitteleuropäischen Februarhimmel mit dem kalifornischen Frühling eintauschen zu können, halfen Paul jedoch, die schlimmsten Phasen seiner Gemütsverstimmungen zu überstehen. Solche Ausbrüche von Heiterkeit kamen ganz unvermittelt über ihn.
Früh morgens zum Beispiel, wenn er das Haus verließ, nach einem flüchtigen Kuss auf Barbaras Wange, der eher schmerzlos als liebevoll war, und einem Schluck Kaffee zwischen Tageszeitung und dem Suchen nach gleichfarbigen Socken, stolperte er die zehn Schritte bis zu seinem Wagen in den Morgen hinein. Das Suchen nach dem Autoschlüssel, Öffnen der Tür, Werfen der Tasche auf den Beifahrersitz liefen mit traumwandlerischer Routine ab. Aufgeschreckt wurde er nur, wenn er in seinem Vorwärtsdrang mit den Gegenständen um sich herum kollidierte. Sich den Kopf am Türholm des Wagens rammte, ihm der Autoschlüssel aus der Hand fiel, oder er fünfmal ansetzen musste, um den Sicherheitsgurt einzurasten. Er reagierte jedoch nicht, wie man es erwartet hätte, mit zunehmendem Missmut, sondern verfiel in eine Art Selbstgefallen, das er mit Kaskaden von Selbstgesprächen einleitete: »Tölpel, wohl schlecht geschlafen, guten Morgen Paul«, waren noch milde Formen selbstironischen Gefallens. Setzte er das Auto aus seiner Eigenheim Siedlung in Richtung der Stadt in Bewegung, fielen die Straßennamen und Plakattafeln seinem aufkeimenden Lebenswillen zum Opfer. Buchstaben auszulassen, sie an andere Stellen zu platzieren, der dünnblütigste Blödsinn verbaler Spielereien bereiteten ihm an einem solchen Morgen kindliche Freude. Aus dem »Himmelhain« Weg wurde »Bimmelrain« Steg und der »Flickschuster«, eine auf seinem Weg gelegene Kneipe, geriet ihm mit derselben Bannung, die ihm das Überspringen der morgendlichen Schatten auf seinem Kindergartenweg auferlegt hatte, zu einem todsicheren »Fickschuster.« Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich dann auf die Plakatwände, die seinen Weg in die Stadt begleiteten. Je nach der mehr oder minder gelungenen verbalen Volte der Werbetexter nahm er sie wohlwollend oder mit einem Anflug von Ärgernis zur Kenntnis.
Heute befand er sich in etwas gehobener Stimmung, als er wieder in einem der unvermeidlichen Autostaus steckenblieb, die seine Leidensgefährten mit dem gleichen Gleichmut hinzunehmen schienen, wie er selbst. Diesmal wollte er sich jedoch nicht in obligatorischen Ausbrüchen über die Sinnlosigkeit des Autofahrens ergehen, dessen alleiniger Zweck darin zu bestehen schien, in morgendlichen Kraftstößen die durchschnittlich siebzig Kilo schweren Fleischpakete aus ihren schlafwarmen Betten in die Stadt hinein und abends aus den Großraumbüros und Werkhallen zurück in die bescheidene Seligkeit ihrer Vierwände zu katapultieren. Er grübelte über die schicksalsträchtige Bedeutung nach, die diese Vehikel mit dem euphemistischen Namen »Kraftfahrzeuge« für den modernen Menschen gewonnen hatten: Von Priestern geweiht, auf christliche Namen getauft, mit Zierrat versehen, müssen sie sich einem wöchentlichen Waschritual unterziehen. In ihren Auslagen beherbergen sie die Schwiegermütter Opfer in Form von Häkeleien, unter deren Schlüpfer farbigen Paspeln sich der Gral teutonischer Sauberkeitserziehung, vulgo Klopapier Rollen, verbergen. Sie tragen die baumelnden Erinnerungen an die ersten Schuhe des Söhnchens oder Töchterchens wie die Skalp-Trophäe eines Sioux Indianers an der Frontscheibe. Sie haben Symbolwert, Charakter und Rasse, hören auf Wertminderungen und Abschreibungsraten. Und keine menschliche Situation ist ihnen fremd. In ihnen wird geliebt, gestorben und geboren. Sie sind Gefängnis und die große Freiheit zugleich. Stürzen Familien ins Unglück und verschlingen jährlich ganze Kleinstädte. Sie sind die Pest der modernen Zeit und sorgen für das wirtschaftliche Erblühen bracher Landstriche. Der Staub ihrer Reifen schreibt Geschichte auf die Autobahnen. Da karren die GIs triumphierend den Wüstenstaub aus Kuwait in den Felgen ihrer Lastwagen von Frankfurt bis zur Abfahrt Nürnberg-Fürth. Da zockelt der Altkleiderkonvoi der evangelischen Gemeinde Lütken-Dortmund in Richtung der Hungergebiete nach Rumänien. Da stehen die weiß gespritzten Lastwagen von UNPROFOR auf dem Rastplatz Bayernwald und machen eine Verschnaufpause auf ihrem Weg in die Kriegsgebiete Bosniens.
Raufschalten, Abbremsen und Wieder-in-Bewegung-setzen. Nachdem er zum hundertsten Mal diese Bewegungs-stereotypie ausgeführt hatte, beschloss er, sich ganz geschmeidig zu machen, um mit einem meisterlichen Satz durch die Windschutzscheibe zu setzen. Gedacht, getan. Hinter sich hörte er das Glas splittern. Noch im Sprung kamen ihm Bedenken, dass sein Wagen den Verkehr blockieren könnte. Polizei, der Menschenauflauf, die gaffenden Mitfahrer. Doch dann landete er mit einem sanften Aufprall auf der Kühlerhaube des vor ihm stehenden Fahrzeugs und trommelte mit seinen Fingern ein gut vernehmliches »Tam-Tata-Tam« auf das Blech des Vordermannes, wartete auf eine, wenn auch nicht freundliche so doch vernehmbare Reaktion aus dem Inneren des Fahrzeuges, auf dem er gelandet war. Stattdessen drangen nur Fetzen von Popmusik an sein Ohr und dazwischen die dissonante Tonfolge des Verkehrsfunks mit der Ansage, dass auf der A3 der Stau mittlerweile auf fünf Kilometer angewachsen sei. Paul betrachtete den Mann hinter dem Lenkrad etwas näher. Eine gewisse Ähnlichkeit war unverkennbar.
Er musste etwa Mitte dreißig sein, die Haare auf nicht ganz ordinäre Länge gestutzt, sodass sie leicht in den Nacken und über die Ohren fielen. Ein kurz gehaltener, dunkler Vollbart, in den sich von den Seiten her graue Strähnen einflochten, gaben dem Gesicht einen maskulinen Ausdruck, der jedoch mit dem wie verloren in den Himmel hängenden Blick kontrastierte. In einer hilflos wirkenden Art hielt er sich am Lenkrad fest als umklammere er einen Rettungsring, dabei schienen seine Finger, den Takt des Musikstücks aus dem Autoradio auf dem Lenkrad mit zu trommeln. Ihm kam das Gesicht bekannt vor. War das nicht der Mann, den er gestern im Supermarkt gesehen hatte als er selbst mit Barbaras Zettel in der Hand noch die restlichen Einkäufe für das Abendessen erledigte. Der Mann hatte ein Paket Spaghetti, süße Sahne und einen Schimmelkäse der Marke Bavarian Blue im Einkaufswagen liegen. Zum Abendbrot sollte es sicherlich Spaghetti mit Käsesauce geben. Manchmal fuhr er einem kleinen Mädchen, das offensichtlich zu ihm gehörte, Gedanken verloren über den Kopf. Eine große Müdigkeit ging von ihm aus, als wäre er seinen eigenen Bewegungen nicht gewachsen. Plötzlich, als der Mann vor der Kasse stand, fasste er sich mit einer hastigen Geste an den Oberschenkel. Etwas Erschrockenes geisterte durch die Szene, und für einen Moment sah es so aus, als wenn er vor irgendetwas Angst zu haben. Dann entspannte er sich wieder, griff in die Hosentasche und holte sein Portemonnaie heraus. Das Ganze, einen Herzschlag lang dauernde Drama, war nur eine Unsicherheit gewesen, der Verdacht, das Geld vergessen zu haben und nun vor der Kassiererin stehen zu müssen, ohne bezahlen zu können. Paul sah die Schweißperlen auf der Stirn des Mannes und die Hand, wie sie beim Abzählen des Geldes zitterte.
Jetzt kratzte Paul mit seinen Fingernägeln auf dessen Kühlerhaube. Es klang wie das Kreischen von Kreide auf einer Schiefertafel. Auch diese martialische Störung der morgendlichen Einheitsgeräusche konnte den Mann hinter dem Lenkrad nicht davon abhalten, weiter vor sich hinzustarren, und den Stimmen aus seinem Autoradio