Stachel im Fleisch. Rolf Dermietzel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rolf Dermietzel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753180274
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die Noblesse eines Antiquitätensalons ausstrahlte, so meinte Alex, würde Paul doch sicherlich etwas für sein Wohnzimmer zu einem vertretbaren Preis finden.

      In Bezug auf Geld waren sich beide einig. Es wurde zu hart verdient, um locker ausgegeben zu werden. Die Notwendigkeiten des Lebens mussten abgedeckt werden, ja, aber Luxus musste man sich erschleichen. Alex hatte Paul davon überzeugt, dass eine Fahrt nach Bayern mit der Aussicht, den einen oder anderen guten Fang zu machen, immer noch billiger wäre, als einem dieser Halsabschneider, die das Süd-Nordgefälle an Weichholz Möbel ausnutzten und gemeingefährliche Gewinne damit machten, das Geld in den Rachen zu werfen.

      Sie übernachteten in einer billigen Pension in der Nähe von

      Rosenheim und brachen kurz nach acht Uhr morgens auf. Paul hatte sich einen Anhänger geliehen, auf dem er die Weichholz Ernte gen’ Norden heim zu karren hoffte. Die Sicht war weit, über die in dieser Gegend eher lieblichen Bergketten des Chiemgaus hinausgehend. Nur in der Höhe des Wendelsteins verfingen sich noch ein paar Morgenwolken, die sich jedoch bald auflösten, und zurück blieb ein klarer, blau gesichtiger Himmel, dessen Transparenz einer südlichen Mär entsprungen zu sein schien.

      Paul umgab eine Mischung aus Ahnung auf einen her-aufziehenden, hochzeitlichen Frühlingstag und eine ihn selten anfallende Heiterkeit, vor der er sich nicht verschließen konnte.

      »Sekundenhimmel«, dachte Alex, und sie kurvten in den Morgen hinein, in Richtung Wasserburg. Alex hatte Paul nicht allein fahren lassen wollen. Nachdem er ihm schon den Tipp mit Wölffler gegeben hatte, wollte er auch an dem Ausflug teilhaben. Dem Auto hinterher hoppelte der kleine Anhänger. Weichholz Möbel waren gerade als besonders rustikal bis in den Norden, in dem bisher eher dunkel gebeizte Eiche vorherrschte, durchgedrungen.

      Hier und dort öffneten Trödelmärkte und Antiquitäten-Boutiquen ihre Pforten. Meistens von geschäftstüchtigen, frisch konvertierten Aussteigern betrieben, deren bärtige Köpfe die neuen Geschäfte organisierten, während ihre Freundinnen die Namen dafür hergaben: »Marys Trödelstübchen«, »Annas Antiquitäten Markt« oder auch »Dies und Das bei Frieda.«

      Das glatte Holz der abgebeizten Schränke und Kommoden mit ihren nach Wachs riechenden Oberflächen versprach Heimeligkeit und Wärme. Die Küchenkredenzen mit weißen Porzellaneinschüben, die Windsor Stühle und Runddeckeltruhen stemmten sich gegen die zunehmende ikeakeske Spanplatten und Sperrholz Kultur. Die Anstreichepoche der fünfziger Jahre war vorbei. Jetzt wurde der Lack wieder abgebeizt, um das Ursprüngliche herauszuholen.

      Alex war für Paul ein hilfreicher Gefährte. Er kannte sich in der Szene aus, war er doch selbst ein Sammler jeglichen antiquarischen Zierrats. Seine Sammelleidenschaft kannte dabei weder Zeiten noch Grenzen. Neben tibetanischen Gebetstrommeln, indischen Saiteninstrumenten, denen er vergeblich einigermaßen harmonische Klänge zu entlocken versuchte, fanden sich alte Hafner Krüge mit intakter Lasur in seltenen Türkisfarben, Schnupftabakdosen mit Elfenbeinstöpsel, rissige Blasebälge, denen längst der Wind ausgegangen war, eine Kollektion von feinst bemalten Ostereiern und Bierkrüge mit zinnernen Deckeln. Obwohl er nahezu abstinent lebte, hatte er sich eine Sammlung von Schnapsgläsern zugelegt, die in endlosen Reihen auf mehreren Borden in seiner Küche aufgestellt waren als sollten sie Front gegen jedwede Versuchung machen. Es war eine hohe Zeit der Sammelleidenschaften auch für diejenigen, deren Haushaltsbudget eher dem Stirnrunzeln eines Herings glich. Mit einem bisschen Instinkt und Ausdauer konnte man sich noch mit »Friedas Dies und Das« ausstatten, und Alex hatte das Gespür des erfolgreichen Sammlers. Wenn er in ein abbruchreifes Haus ging, dann fand er den letzten unter Mauerresten verschütteten Bugholzstuhl. Die Wertigkeit der Gegenstände maß er nicht am aktuellen Preis, sondern an der Kuriosität des Fundes. Einmal hatte er in einem leerstehenden Haus eine reich verzierte eichene Truhe gefunden. Er hatte sich die Springer Stiefel angeschnallt, um dieses Mobiliar, das gut seine zwei Zentner wog, über drei Kilometer nach Hause zu schleppen, mitten in der Nacht, vorbei an besoffenen Kumpeln, die ihn lallend fragten, warum er sich denn so kaputt schufte. Besinnungslos vor Erschöpfung muss er in seiner Wohnung angekommen sein. Als er am nächsten Morgen aufwachte, fand er sich zerschunden, mit seinem abgerissenen Lieblingsfingernagel in der Truhe wieder. Sein zukünftiges Unglück sei nun vorprogrammiert, pflegte er zu sagen, wenn er die Truhe demonstrierte. Nur der Stolz des erfolgreichen Sammlers hätte ihn davon abgehalten, seinen suizidalen Gedanken nachzugeben und sich einfach in die Truhe zu legen, den Deckel von innen zu schließen und den wohlverdienten mort douce eines unglücklichen Sammlers zu sterben. Nach monatelanger Bearbeitung mit Schleifpapier jeder Graduierung, vom grobkörnigen Korund bis zum feinsten Metallstaub und nachfolgender Einbalsamierung mit nach Lavendel duftendem Wachs, zierte nun die Truhe sein Schlafzimmer.

      »Das beste Behältnis für meine schmutzige Wäsche«, pflegte Alex mit der ihm eigenen Untertreibung zu sagen.

      Sie erreichten Wasserburg. Am Inn gelegen, der hier noch einmal wild vor sich hin rauscht, an Häusern vorbei, die man sonst nur auf Model-Brettern für Spekulatius-Plätzchen zu finden glaubt. Sie kutschierten durch ein funktionierendes Stadttor, in dessen dunkler Wölbung noch das Hufklappern und Gewieher von Jahrhunderten widerhallten. Die Stadt lag friedlich da, als wollte sie sich den Bauch in der Morgensonne wärmen.

      Paul überkam das Bedürfnis, die Autos wegzuschieben und die Antennen von den Dächern zu knicken, um den Eindruck von Zeitlosigkeit zu vervollständigen. Die wenigen Menschen auf den Straßen waren mit Alltagsverrichtungen beschäftigt. Einkaufende Frauen, Kinder, die zur Schule gingen, alte Männer auf einer Bank. Die Sonne musste sie wohl ans Licht gelockt haben. Dazwischen ein Mädchen auf einem Fahrrad, eine Milchkanne kutschierend.

      »Wenn ich auch nur eine falsche Bewegung mache, dann kippt das Bild aus dem Gleichgewicht«, sinnierte Paul und blieb ganz ruhig sitzen, ohne zu atmen. Er fuhr langsamer, um sich dem Eindruck von Frieden hinzugeben. Hinter ihm holperte der Anhänger über den Graubasalt.

      »Brems mal«, sagte Alex. »Wir gehen noch in diese Bäckerei und kaufen ein paar frische Brezeln. «

      Und dann standen sie in dem Bäckerladen, dessen Regale voll frischer Brotlaibe waren: Kastenförmige, lieblich runde, schlanke, derb krustige Doppelbacks. Zart Gelbes, neben den braunrissigen, mehlbestäubten Rädern der Bauernbrote. Körbe mit duftenden Semmeln, Kaiserwecken, Finschgauern, Rundlingen, Kornspitzen, Körnlingen, Kümmelwecken, Sesamwecken, ausgeklappten Käsestangen, Passauer, Napoleonsecken und Nussbeugerl, die Oberfläche mit Eigelb lasiert. Duftende Rosinenstuten, Kolatschen, Springerle, noch um diese Jahreszeit selbstgefertigte Rum- und Mozartkugeln. Alex ließ sich eine frische Brezel mit Butter bestreichen. Der Duft des Brotes trieb Paul das Wasser in den Mund.

      stalinorgeln im kamin/ bolzenschussgeräte/ leukoria und der witte berg/ ein laib brot brechen/ das schmerzhafte lächeln des ernährers/ auf die nase kippen/

      Paul war wohl vier Jahre alt, und es war ein Wasserburg-Tag. Frühe Sonne, die durch die Gitterstäbe fiel, auf seinem Weg die Lutherstraße hinunter zum Kindergarten. Jeden dritten Schatten musste er auslassen. Das war ein Befehl! Das war so beschlossen! Sonst würde etwas Schreckliches passieren! Mindestens tot sein, wäre die Folge, wenn er auch nur auf einen der Schatten treten würde. Hinter den Gitterstäben lag das städtische Gymnasium. Der Schulhof war noch in frühe Dämmerung getaucht. Der Ziegelsteinmauer am Ende des schmiedeeisernen Zaunes hatte eine Granate die steinerne Krone zerfetzt. Der Krieg war noch sehr nahe.

      »Wenn du genau hinhörst, dann kannst du die Stalinorgeln jaulen hören«, hatte seine Großmutter ihm gesagt. Dabei meinte sie wohl den Wind im toten Kamin des Hauses. »Die zielen genau auf die Stickstoffwerke in Piesteritz, und wenn die getroffen werden, dann kracht es auch hier gewaltig.«

      Manchmal war die Großmutter verwirrt, denn der Krieg war schon zwei Jahre vorbei, und was da draußen krachte, waren die Sprengsätze in den Bunkerresten, die von Zeit zu Zeit gezündet wurden, um die dicksten Brocken aus