Stachel im Fleisch. Rolf Dermietzel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rolf Dermietzel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753180274
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Ertrag einer Woche in Form von hunderten von Artikeln gelistet wurde. Es hätte der Natur eines Wölfflers bedurft, um auch nur in etwa auf dem eigenen Forschungsgebiet die Übersicht behalten zu können.

      Da Paul weder dessen Statur besaß noch die Möglichkeiten, sich des Ganzen auf elegant elektronische Weise zu entledigen, indem er die immensen Fleißarbeiten in das gefräßige Grab einer Harddisk speicherte, begnügte er sich mit einer Taktik, die ihn an »Friedas Dies und Das« erinnerte. Er pickte die vermeintlich besten Stücke heraus, in der Hoffnung, das richtige Gespür gehabt zu haben, was sich an ihrer zukünftigen Überlebensfähigkeit erweisen sollte. Wenn er jedoch in gelegentlichen Anfällen nostalgischer Neugier seine Karteikästen durchblätterte, in denen er die Publikationen über die Jahre gesammelt hatte, dann musste er mit Schrecken feststellen, dass die meisten Schätzchen doch nur modische Versatzstücke und Dekorationen waren. Er wagte es nicht, sich auszumalen, wieviel Fleiß und Ehrgeiz, wieviel finanzieller Aufwand und individueller Verzicht hinter all den Werken steckte, die da in rascher Folge der Vergessenheit anheimfielen. Pauls Bescheidenheit war jedoch auch pragmatischer Natur. Schließlich hatte er sich mit dem wenigen, das ihm an Ausstattung zur Verfügung stand, eine respektable Position erarbeitet. War Universitätsdozent geworden, arbeitete mit einem gut funktionierenden Team zusammen, das er nicht durch überzogenen Ehrgeiz auseinander zu sprengen gedachte, und Saul Finkelstein vom California Institute of Technology, kurz Caltech genannt, war auf ihn aufmerksam geworden und hatte ihn zu einem Forschungsaufenthalt eingeladen, nachdem ihm ein paar gute Publikationen gelungen waren.

      fresszellen in den molekularen verästelungen/ küsse im dreivierteltakt/ korsettagen bis zum geht nicht mehr/ vielleicht die sternen konstellation/ von anfang an schon am ende/ liebstes in den sternen/ die sehnsüchtigen umarmungen/ ludmilla so weiß wie schnee/

      Paul setzte sich in der letzten Zeit intensiv mit den Zellen auseinander, deren Aufgabe es ist, die Abräumarbeiten im Körper zu verrichten. Diese Fresszellen (Makrophage) faszinierten ihn schon seit seinem Studium. Er empfand es als geniale Erfindung der Evolution, dass nicht nur für das Funktionieren der biologischen Vorgänge Sorge getragen wurde, in all ihren feinsten molekularen Verästelungen, sondern dass auch der Schuldfall mit einkalkuliert worden war. Der Tribut, der für die Komplexität bezahlt werden musste. Die täglichen Entgleisungen der Maschinerie, der latente Störfall, der entweder zu einem harmlosen Betriebsunfall führen oder aber zu tödlichen Zwischenfällen ausarten konnte.

      »Einen Teil, der für die Aufräumarbeiten im Störfall notwendigen Kontrollfunktionen, übernehmen die Fresszellen. Sie sind fähig, eingedrungene Mikroben und Fremdkörper zu erkennen, an ihren Zell Leib zu binden, sie zu umarmen und schließlich zu verdauen. Wachhunde der Immunabwehr«, so pflegte Paul zu dozieren.

      »Fremde Eiweiße spüren sie auf, verleiben sich die Brocken stückweise ein und zerlegen sie in appetitliche Bruchstücke, die sie dann den Lymphozyten zur weiteren Bearbeitung anbieten.« Pauls ansonsten trockene Lehr-Sprache bekam jedes Mal einen poetischen Glanz, wenn er über sein Lieblingsthema referierte.

      »Sie machen sich über wild gewordene, körpereigene Zellen her, wenn sie zu Tumorzellen entarten und verhindern so in der Regel die große Katastrophe eines ungehemmten Wachstums. Ja, ihnen wird nachgesagt, dass ihre Befindlichkeit den Gemütsschwankungen ihrer Träger folgt, wobei sie besonders empfindlich auf Stress und schlechte Laune reagieren.«

      Paul war bereit, jedem Zuhörer, der sich bereitwillig anbot, alle Details über diese nützlichen Vielfraße zu erläutern. Es war weniger ihre orale Potenz, die ihn zu faszinieren schien, sondern die Geschichte ihrer Entdeckung und der Mann, der dahinterstand. Früher oder später landete er während seiner Exkursionen über die Makrophagen bei dem russischen Zoologen Metchnikoff, und man konnte Paul anmerken, dass er sich nicht nur mit dessen wissenschaftlichem Werk, sondern auch mit seiner Biographie zu identifizieren schien.

      »Elie Metchnikoff……« Pause.

      Wenn Paul den Namen erwähnte, dann hob er mit dem »Elie…. « an, als wollte er ein chassidisches Klagelied anstimmen. »Sohn eines christlichen Gutsherrn und einer jüdischen Mutter war ein sensibles und intellektuelles Kind. Eine gewisse morbide Hinfälligkeit hatte er offenbar von der Mutter geerbt, die den Sohn in seiner Entwicklung mit Wohlwollen und Respekt betrachtete. Als der sich entschloss, Medizin zu studieren, riet sie ihm von diesem Berufswunsch ab. Sie meinte, ihr Elie sei zu sensibel für diese Profession. Wer die Willensstärke jüdischer Mütter kennt, wird nicht verwundert sein, dass sich der Sohn ihrem Wunsch fügte.

      Der Siebzehnjährige beschloss daraufhin, Zoologie zu studieren. Sein Herzenswunsch war es, nach Deutschland zu gehen. Seine Wahl fiel auf Würzburg. Die Immatrikulation scheiterte aber an einer terminlichen Unzulänglichkeit. Das Semester begann statt Anfang September erst in der ersten Oktober Woche, und da die Studenten Kanzlei geschlossen hatte, konnte er sich nicht immatrikulieren. So irrte Elie durch die freundlichen, aber für einen Siebzehnjährigen, der aus der ländlichen Region des mittelrussischen Panaskova angereist war, abweisenden Straßenzüge der unterfränkischen Universitätsstadt. Mochte er sich auch vor dem altehrwürdigen Gemäuer des Julius-Spitals gefragt haben, ob er seinen Entschluss, nicht Medizin zu studieren, revidieren sollte, so hatte er keine Chance, dies rückgängig zu machen. Er fuhr frustriert nach Russland zurück und begann mit seinen zoologischen Studien in Kharkov, wo er innerhalb von zwei Jahren sein Studium erfolgreich abschloss. Er war ein »Shooting Star« in dieser Provinzuniversität. Mit der Sehnsucht nach Größerem im Herzen und der unruhigen Seele eines jüdischen Jünglings, dem sich die wissenschaftliche Welt eröffnen sollte, kehrte er nach Deutschland zurück, das damals als Hochburg der medizinischen und biologischen Wissenschaften galt. Er fand einen Mentor in dem zu seiner Zeit berühmten Parasitologen namens Leuckart. Metchnikoff studierte unter Leuckart das wechselvolle Liebesleben des Spulwurmes Ascaris nigrovenosa mit Akribie und Erfolg. Zur damaligen Zeit,« merkte Paul an, »war es noch möglich, ganze Lebens- und Entwicklungszyklen neu zu entdecken, und sie als Teil eines universellen Schöpfungsplanes zu begreifen. Doch Eifersüchteleien und Eitelkeiten waren schon immer fleißige Gefolgschaften der Wissenschaften. In ihrer Vermessenheit hielten sie mit den Erkenntnisdurchbrüchen der Zeit Schritt. Elies wissenschaftlicher Ziehvater veröffentlichte die Ergebnisse unter seinem Namen, ohne Metchnikoffs Anteil angemessen zu würdigen. Daraufhin kehrte er enttäuscht und angewidert von Deutschland nach Russland zurück.«

      So weit, so gut.

      Paul sortierte die Anforderungskarten für einen Sonderdruck seiner letzten Publikation über: »Das Wanderungsverhalten von Makrophagen im zentralen Nervensystem« nach den Anfangsbuchstaben der Absender und legt sie zu der Ausgangspost.

      Eine Metchnikoff Karriere zu erreichen, das wusste er, war ihm nicht vergönnt. Die Zeiten hatten sich geändert. Jetzt galt es, mit ausgeklügelten biochemischen und molekular-biologischen Methoden das Wechselspiel zwischen den Makrophagen und den Gefäßwänden, zwischen Makrophagen und ihren Zielzellen, zwischen Makrophagen untereinander und zwischen ihnen und den aufmüpfigen Mikroben zu studieren. Um ein Star zu werden, musste man in den Boxring der modernen Zell- und Molekularbiologie steigen und seine vermeintlichen Siege in den Wochenmagazinen wie Nature und Science publizieren. Er beherrschte nicht die ausgefeilten Methoden, die notwendig waren, um den Finger an den Pulsschlag des galoppierenden Erkenntnisdranges zu legen. Beruhigend war für ihn, dass auch Metchnikoff den späten Ruhm seiner potenten Zellen nicht mehr selbst hatte erleben können.

      »Elie verlebte einige wissenschaftliche Wanderjahre zwischen Neapel, Odessa und Petersburg, bis er schließlich müde des Reisens und vom harten Winter in Petersburg gezeichnet, schwer erkrankte. Ludmilla Fedorovitch pflegte ihn gesund, und er wusste nicht, ob es Liebe oder Dankbarkeit