Stachel im Fleisch. Rolf Dermietzel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rolf Dermietzel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753180274
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Enzian putze die Hirnwindungen frei und verschaffe einen klaren Blick, und den hätte er ja wohl bei soviel Stubenhockerei nötig, wenn das stimme, was Alex ihm gerade erzählt habe. Dann stieß er mit Paul an. Der spürte, wie der feurige Schluck die Schleimhäute seiner Speiseröhre hinunter brannte und sich des Magens bemächtigte. Allmählich, nachdem das erste Zischen und Dampfen in ihm abgeklungen waren, durchstrahlte ihn wie eine aufgehende Sonne von der Magenmitte her eine angenehme Wärme. Dieser aufkommende wohlige Zustand muss wohl ein Lächeln auf Pauls Gesicht gezaubert haben.

      »Siehst du«, wieherte Wölffler, »es hat gewirkt. «

      »Du kannst schon mal nach hinten ins Lager gehen und dir deinen Lieblingsschrank aussuchen. Wölffler zeigt mir noch ein paar neu erstandene Hafner Krüge mit Originallasur«, ergänzte Alex.

      Arm in Arm verschwanden die beiden in dem kleinen Laden, und Paul, der sich von der lauthalsen Zwiesprache ausgeschlossen fühlte, ging etwas benommen hinter das Haus. Die Möbel waren in zwei lang gestreckten Schuppen untergebracht. Seine Augen gewöhnten sich an das dämmrige Licht, und er erkannte die Konturen von zahllosen Schränken, Tischen, Küchenkredenzen, riesigen ledernen Sofas mit Elefantenhäuten und unzähligen Stühlen. Die meisten der Weichholzmöbel waren abgebeizt, doch nicht weiter behandelt worden. Das Holz war vom Kratzen und Schaben mit dem Abziehmesser unter der scharfen Natronlauge aufgefasert, die Oberflächen filzig aufgeweicht. Wund sah das Holz aus und verletzt. Wieviel sklavische Arbeitsstunden es wohl gekostet haben mag, von diesem gewaltigen Haufen von Möbeln die Farbe zu entfernen?

      »Sammeln und Beizen in diesen Mengen, das geht nicht zusammen. Wölffler muss Unmengen von Helfern um sich versammelt haben«, war Pauls erster Gedanke. Allmählich fand er seinen Weg durch den Wirrwarr. Hier musste er einen Glasaufsatz beiseiteschieben, dort über ein altes Sofa steigen, dessen Sprungfedern ihm entgegen wippten, als wollten sie ihn begrüßen. Paul sah wieder Wölfflers Gottesarme vor sich, wie sie das Sofa eigenhändig in den Schuppen stemmten. Ihm war nicht klar, ob Wölffler nur seine Sammelwut befriedigte oder noch retten wollte, was zu retten war. Vielleicht war es aber auch nur eine genuine Schläue gepaart mit einem guten Geschäftssinn, die ihn zu diesem Gewerbe getrieben hatten, denn bald würde jedes Stück eine Rarität darstellen, und die Aufkäufer der großen Kaufhäuser würden sich in Wölfflers Schuppen tummeln. In Paul stieg die Vision von Scharen smarter, in graues Flanell gekleideter junger Männer auf, die, nachdem sie ihre Visitenkarten vorne im Laden abgegeben hatten, den Schuppen bevölkerten. Die Möbel standen geschliffen und gewachst, wohl geordnet in Reihen, mit säuberlich ausgezeichneten Preisschildern versehen. Auf einigen Preisschildern klebte ein roter Punkt. Und Wölffler, in einen dunkelblauen Anzug gezwängt, der sich über seine Fleischesfülle spannte wie der Darm über eine gestopfte Blutwurst, nahm die Schecks entgegen. Die behaarten, kräftigen Hände waren fast vollständig von blütenweißen Manschetten bedeckt, die er mit Manschettenknöpfen aus Theresientalern zugesteckt hatte. Das Hemd stand meilenweit offen und erlaubte Einblick in ein Gestrüpp von wildsprossenden Brusthaaren. Natürlich fehlte in Pauls Vision nicht das obligatorische Goldkettchen am Hals mit dem Medaillon und dem eingravierten Namen. Paul konnte nicht erkennen, ob Wölffler lächelte, als die smarten jungen Männer um ihn herumtänzelten.

      »Lipizzaner in der Zirkusarena«, Paul schüttelte verächtlich den Kopf. Er erwartete jeden Augenblick den Peitschenknall aus Wölfflers Hand. Der jedoch kassierte in aller Seelenruhe weiter die Schecks, und als die Pferdchen den Schuppen verließen, fegte er noch die Pferdeäpfel beiseite. Paul blickte etwas enttäuscht von seiner Vision auf. Zu abrupt offenbar, denn er lief vor einen Schrank, der sich ihm monströs in den Weg stellte. Gut zwei Meter hoch und in der Breite an die vier, war er aus dunklem Ebenholz gebaut. Der grün verglaste Aufsatz ruhte auf einem Unterbau, der in sechs zu Löwenköpfen geformten Füßen auslief. Ein Paul unerklärliches Gefühl von Bedrohung schien von diesem Schrank auszugehen. Waren es die auf der linken Seite geöffneten Türen des Aufsatzes, die ihn anklafften, oder war es die bedrückende Atmosphäre einer scheinheiligen, bürgerlichen Wohnzimmerkultur, die dieses Ungetüm mit muffigem Atem ausdünstete? Unvermittelt trat er gegen die mit Stollenreliefs versehene linke Tür des Unterschranks, die aus ihren Scharnieren flog, und im Inneren des Monstrums landete. Staub wirbelte auf. Ungerührt blieb das Ding in seiner majestätischen Einfalt stehen. Nach diesem Wutanfall fand sich Paul auf einem Stuhl wieder, dessen Geflecht an totaler Auszehrung litt. Er rieb seinen Fuß und dachte über den für ihn ungewöhnlichen Anflug von Extrovertiertheit nach. Alex kam herein und fragte ihn, ob er einen Schrank gefunden habe, der ihm zusage. »Du hast dich doch wohl nicht in den belgischen Riesen da verliebt? « Er deutete auf das schwarze Ungeheuer. Paul hätte diesen Begriff eher bei einem Kaninchenzüchter angesiedelt. Solche Gebilde seien im Moment in Belgien und in den Niederlanden preiswert zu bekommen, und Wölffler pflegte, wenn er denn nun gar nichts in den südlichen Gefilden fand, zuweilen auch zu einer verzweifelten Tour in den Norden aufzubrechen. Gegen einen Weichholz Brotschrank oder eine Kommode könnte er dann ein solches von protestantischer Wucht strotzendes Ungetüm eintauschen.

      »Lass die Finger davon, dem ist kein Lächeln zu entlocken.« Alex drehte sich um und deutete auf einen zierlichen Allgäuer Schrank. »Schau dir den an, hat er nicht das Gesicht einer Jungfrau? Der schwungvoll abgerundete Giebel, die Türen geformt wie zwei Engelsflügel, als wollten sie gleich abheben und die Füße so zierlich, als würden sie in Lackschühchen stecken. Schau es dir an, ist es nicht heiter, dieses unschuldige Gesicht aus oberfränkischer Kiefer und der dagegen«, und er deutete auf den Belgier: » …. der ist der sterilen Phantasie einer flämischen Gouvernante entsprungen. Zu schade, dass vom Allgäuer die Bemalung abgebeizt ist. Sicherlich war er einmal mit Blumenranken in den Farben einer Frühlingswiese geschmückt«, und dann tänzelte Alex auf den Allgäuer zu, öffnete die Türen und nichtachtend der Tatsache, dass ihm Staub, Spinnengewebe und Fetzen von altem Zeitungspapier entgegenflogen, redete er von frisch gestärkten Linnen, blaubedruckten Schürzen und den heimlichen Seufzern der Jungfrauen, die einstmals Stück für Stück ihrer Aussteuer und Sehnsüchte in diesem Schrank deponiert hatten. Paul starrte Alex fasziniert an. »Diese plötzliche Ereiferung, diese Geziertheit, das Herumtänzeln. Entweder er bekommt Prozente von Wölffler, oder er ist doch schwul.« Ein Verdacht, der ihn schon seit dem ersten Anblick von Alex’ zarten Füßen verfolgte. Paul erfasste ein Gefühl großer Zuneigung zu diesem fast zwei Meter großen Mann. Alex lief hinaus und kam mit einem Metermaß zurück.

      »Wie waren noch mal die Maße, die du vorgesehen hattest? Zwei Meter vierzig, mal ein Meter. Er hat den richtigen Schnitt. Er hat das Lächeln der Mutter Gottes im Kloster Andechs (Carl Orff, der Komponist der Carmina Burana, ist im Kloster Andechs bestattet. Anm. des Autors) und Wölffler wird dir einen guten Preis machen. «

      Ohne auch nur den Anflug einer Einwendung vorbringen zu können, willigte Paul ein. Soviel Hingabe an ein Möbelstück und das Gefühl, diesen vor sich hinträumenden Allgäuer aus dem Schatten des belgischen Riesen befreien zu können, hatten ihn überzeugt. Sie waren gerade dabei, den Schrank aus dem Schuppen zu wuchten, da kam ihnen Wölffler entgegen. Er ging vorsichtig um den Schrank herum, wiegte seinen mächtigen Kopf wie ein überdimensionaler Weihnachtsmann und dann mit der flachen Hand auf die Rückwand schlagend, sagte er, als wolle er ein Pferd vorantreiben, ».... der Schrank bleibt hier.« Seine Reaktion kam so blitzartig aus dem Handgelenk gefahren, dass Paul und Alex einen Schritt zurücktraten. Alex fing sich als erster. Was denn los sei, und warum er das Ding nicht verkaufen wolle? Schließlich habe der Schrank die ganze Zeit im Schuppen gestanden und vor sich hingedöst. Er sollte ihnen einen guten Preis nennen und damit: »Basta! «

      Paul hatte Alex etwas mehr Fingerspitzengefühl zugetraut, verstand aber, dass bei Wölffler eine solche Sprache angebracht war. Seinen Rippenstoß nahm dieser mit schulterzuckender Gleichgültigkeit hin. Umso verblüffter war Paul, als Wölffler sein gerade noch lautstarkes Organ in eine kaum wahrnehmbare Flüsterlage senkte. Sie sollten noch ein bisschen warten und vielleicht im Dunklen wiederkommen. Wölfflers Stimme erlosch nun nahezu ganz. Nur noch ein paar »Rrrrrrrrs« und »Oiiiiiiiis« und »Sssss« drangen an Pauls Ohr. Dann brach er vollends ab, als plötzlich hinter dem Schuppen eine