Stachel im Fleisch. Rolf Dermietzel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rolf Dermietzel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753180274
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öffnete, zu sich selbst. Für einen Moment fühlte er sich angenommen, als sie ihn in die Arme nahm und begrüßte. »Du bist ein richtig großer Junge«, sagte sie. »Damit werden wir gut eine Woche über die Runden kommen. «

      Und dann: »Vater wäre stolz auf dich. «

      Paul blickte in das schmerzhaft lächelnde Gesicht auf dem Schreibtischchen. Am liebsten hätte er es genommen und auf die Nase gekippt. »Ich bin der Ernährer«, dachte er. »Ich will, dass du auf mich stolz bist. « Das Brot wollte er nicht hergeben. Erst der Vorschlag, es gleich anzuschneiden, damit es nicht trocken würde, löste seinen Krampf.

      hohlgeleckte laugenbrezel/ madonna im/ strahlenkranz/ gebenedeite/ die unsterblichkeit des todes/ jo moi a schoiner toach/

      Alex kaute genüsslich an seiner Brezel als sie den Bäckerladen verließen und murmelte zwischen zwei Bissen: »Ein Laugenbrezel mit frischer Butter ist das Sinnlichste, was sich ein Gaumen an solch einem Morgen vorstellen kann. Wölffler hat erst ab elf Uhr geöffnet. Es bleibt noch etwas Zeit. « Sie gingen zu einer nahen gelegenen Kapelle, die am Ortsausgang lag. Alex musste sich tief bücken, um durch die niedrige Tür zu kommen. Sein massiger Körper füllte fast vollkommen die Türöffnung aus. Drei Stufen, von der Zeit hohlgeleckt wie hölzerne Brotmulden, führten in das Innere hinab. Dann standen sie unvermittelt in dem kleinen Kirchenschiff, das nur von einem gebrochenen Licht erhellt wurde. Die morgendlichen Sonnenstrahlen fielen durch gelbe Bleiglasfenster und gaben dem Raum einen vergilbten Glanz, wie er auf alten Fotografien zu sehen ist. Zeitlos schienen hier der Morgen in die Abenddämmerung überzugehen, Tage und Nächte zu wechseln wie die gedämpften Atemzüge einer abseitigen Welt, die nur noch in den fernen an- und abschwellenden Straßengeräuschen gegenwärtig blieb. Für bajuwarische Verhältnisse wirkte das Innere der Kapelle verblüffend karg. Bis auf eine Madonna im Strahlenkranz, die über dem mit einem weißen Leinentuch bedeckten Altar hing, und deren Krone den einzigen Goldschmuck des Raumes ausmachte, fehlte jeglicher barocke Zierrat, den Paul immer als Ausdruck der satten, sinnesfreudigen Frömmigkeit dieses Landstriches empfunden hatte. Als wollte sich die Stille, die sie umgab, in einem langgezogenen Ton enthäuten, fiel in ihr Schweigen ein rhythmischer Gesang ein, den er als >Ave-Maria< erkannte, und der von den ersten Bankreihen herkam. Sechs alte Frauen saßen dort. Die Oberkörper ließen sie im Einklang mit der Gebetsformel schwingen. Sie hatten sich zu einem archaischen Chor zusammengefunden: »Maria, gebenedeite Mutter Gottes, gebenedeite, gebenedeite …«.

      Die Worte hoben ab, schwebten über den dunklen Bänken und füllten den Raum im Rhythmus der pendelnden Körper aus, die Eins zu werden schienen im Gebet. Die physischen Grenzen ihrer faltigen Leiblichkeit waren aufgehoben, als hätten sie sich aufgelöst in dem alles umfassenden Gesang, der die gekalkten Wände, die Bleiglasfenster, die Mutter Gottes im Strahlenkranz und Paul und Alex umschlossen. »So könnten sie hinübergehen, und der Übergang wäre ein leiser Seufzer am Ende ihres >Ave-Maria< «, dachte Paul.

      Er blieb mit Alex im Hintergrund der Kapelle stehen. Beide fürchteten mit jedem Schritt, die Heiligkeit des Augenblicks zu zerstören. Die Bannung, die sie umfing, hielt noch an, nachdem sie die Kapelle wieder verlassen hatten. Als habe es ihnen die Stimme verschlagen, schwiegen sie für eine Weile. Dann setzte Alex an: »Es klang wie das Surren meiner tibetanischen Gebetstrommel.« Paul versuchte, sich aus der Stimmung zu befreien und räusperte sich. »Du hast recht. Ich musste an die Unsterblichkeit des Todes denken.« Beide hatten das Gefühl, das Richtige mit den falschen Worten zu sagen. Als sie mit ihrem Wagen den Ort verließen und an der Kapelle vorbeifuhren, wurde gerade die Tür aufgestoßen, und eines der alten Weiber, das Kopftuch über den grauen Haaransatz geschoben, blinzelte rotgesichtig in die Sonne. »Jo, moi a schoiner Toach«, oder so etwas Ähnliches meinte Paul vernommen zu haben.

      elephantenhäute/ maroder kloster/ enzian in den hirnwindungen/ grimmscher blödsinn/ rrrrrrs und oiiiiiiiis und ssssss/ gottesarme wie blutwürste/ pferdeäpfel sammeln/ ein weib ist kein schiff/ das verwaiste schaf/ in romanischen bögen pinkeln/

      Wölfflers Haus lag etwas abseits von der Straße. Eine sonderbare Mischung aus neubayrischem Bauernhaus Imitat und handgewerkelter Schrebergartenlaube, dekoriert mit zahllosen Überresten aus abgebrochenen Stadeln und Almhütten. Tonnenschwere Steintröge aus Viehtränken gehievt, zerfallenen Kuhställen entrissen, protzten neben den zerborstenen Stümpfen romanischer Säulen, die wohl aus einem maroden Kloster oder einem sanierungsbedürftigen Kirchenschiff entwendet worden waren.

      Ein Grabstein, die Inschrift von der Zeit gelöscht, hatte sich unter einen Leiterwagen verirrt. Kutschen, deren Lackleder Bezüge von den Fährnissen der Jahre zerschunden waren wie die sonnengegerbten Häute der alten Frauen in der Kapelle, standen friedlich zur letzten Ausfahrt vereint in einer offenen Stallung. Ein Sammelsurium von Bruchstücken, Angedeutetem, Abgebrochenem, Umgestürztem, Platziertem und Deplatziertem war wahllos von einer herkulischen Sammelwut zusammengetragen worden, dessen Sinn allein in der Befriedigung der Obsession zu bestehen schien, alles auch nur etwas vom Alter aufgeraute entführen zu müssen. Das Sammelsurium war ja gefunden, abgeschwatzt, verhandelt, abgeluchst, ausgebuddelt, versteckt und klammheimlich wegtransportiert worden. Seilwinden, Traktoren, Sattelschlepper mit hunderten von Pferdestärken waren notwendig gewesen, um einige der tonnenschweren Stücke auch nur einige Zentimeter weit zu bewegen. »Der Mann muss ein Genie im Aufspüren, Feilschen und handwerklichem Erfindungsreichtum sein. Sonst hätte er nicht diesen Feiertagsanblick für einen Sammler anhäufen können«, fuhr es Paul durch den Kopf. Vor soviel geballter Kraft verblich »Friedas Dies und Das« zu einem kümmerlichen Kramladen. Kein Wunder, dass Alex hier sein großes Vorbild gefunden hatte, an dessen berserkerhaften Vitalität er wahrscheinlich nie würde heranreichen können.

      Sie näherten sich vorsichtig dem Haus. Ein riesiger Schäferhund, hüfthoch, mit dem Kopf eines Kalbes, kam auf sie zugelaufen. Paul, der schon die Flucht ergreifen wollte, sah wie Alex stehenblieb und ein paar kaum verständliche bayrische Wortbrocken hervorbrachte. Er, der sonst von panischer Angst im Anblick eines Pinschers befallen wurde, und dessen Mutter einmal die Polizei gerufen hatte, weil ein winziger Dackel ihr den Hauseingang verstellte, fing an, diese Ausgeburt von Bissigkeit hinter den Ohren zu kraulen.

      »Bongo ist harmlos. Das einzige, was du nicht machen darfst, ist, ihm den Rücken zuzukehren. Dann denkt er, du hast was geklaut und willst abhauen. Und Abhauen ist eine Todsünde in Wölfflers Reich«, klärte ihn Alex auf. Paul sah, wie Bongos Rute noch einmal in eine steife, unfreundliche Mittellage fuhr. Als er ihn trotzig anblickte, ging sie ganz langsam in ein freundliches Wedeln über. Aufatmen!

      Das kurze Bellen des Hundes hatte das Haus geweckt. Von irgendwoher aus dem Haus kam eine Stimme. Bald darauf erschien ein massiger Mann in der Tür, sein Kopf in den Ausmaßen ähnlich dem des Hundes. Das Gesicht war von einem mächtigen, dunklen Bart eingerahmt, über den zwei Augen blickten, die bei aller maskulinen Grimmigkeit einen Anflug von Wohlwollen und hintangehaltener Pfiffigkeit nicht verbergen konnten.

      »Wohin des Weges?« Oder eine ähnliche Floskel erwartete Paul jetzt.

      Wölffler hingegen wandte sich Alex zu, ohne Paul länger zu mustern, und beide begannen, sich in einer ihm unverständlichen Sprache mit langrollenden »Rrrrrrr« und »Oiiiiiis« und kehlig die Stimmbänder strapazierenden Grunzlauten zu unterhalten. Das war kein Gespräch, das war ein Gewittergrollen, mit unvermittelt einbrechenden Lacheruptionen und plötzlichen Einschlägen von Schulterklopfen, die Alex trafen und ihn fast aus seinen Springer Stiefeln geworfen hätten. Wölfflers Unterarme, die zuweilen aus seinem grauen, ausgewaschenen Kittel herausfuhren, waren so muskulös wie der erhobene Arm Gottes in der Sixtinischen Kapelle und schwarzbehaart wie die eines Satansbraten.

      Wölffler ging in seinen kleinen Laden zurück, der neben dem Hauseingang lag, und kam mit einer dunkelbraunen, irdenen Flasche und drei Schnapsgläsern wieder heraus. Er schenkte die Gläser so voll, dass ihm der Schnaps über die Finger lief. Gab