Stachel im Fleisch. Rolf Dermietzel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rolf Dermietzel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753180274
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      vertrautheit/ dem keller entgegen/ jedoch eine war gen himmel/ war ihm eine etwas ausgefranzte/ verordnete schwester martha/ spätzünder ausgemergelter/ heimzügler/ und in mausgrauen anzügen steckend/ über abgegriffene schirmmützen eine letzte wache/ griffige girlanden/ und willkommen in den nachbarhäusern/ daheim/ stand er getauft/ sichtlich hohes fieber bekommen/

      Sie hatten ihn in einen Saal geschoben. In einem dieser hohen Krankenhausbetten, deren weiß gestrichene Metallstäbe eher an einen Käfig erinnerten, denn an eine Schlafstätte für Kinder. Paul hatte plötzlich hohes Fieber bekommen. Er nahm das erste Mal in seinem Leben bewusst den halb wachen Zustand fiebriger Benommenheit wahr. Bis auf ein Dröhnen in seinem Kopf, das an- und abschwoll und von seinem Herzschlag rührte, schien alles wie unter einem heißen Waschlappen gedämpft. Versuchte er sich aufzurichten, nahm dieses monotone Dröhnen bedrohlich zu und senkte sich als schwarze Glocke über ihn. Weil jede Bewegung der Augen, jede Wendung des Halses, ja sogar eine heftige Atembewegung ein schmerzhaftes Echo in ihm verursachte, blieb er regungslos in seinem Bett liegen. Die Gegenstände um ihn herum waren in ungreifbare Ferne entrückt. Dazwischen konnte er die Stimmen der Schwestern hören, die sich über ihn beugten und in sein Bett schauten, um bedenklich mit den Köpfen zu nicken. Dann begannen sie etwas zu flüstern, was er nicht verstand. Ihre Mienen verhießen nichts Gutes. So wie die unerfüllte Drohung seines Bruders, dass der Hausmeister keine Gnade kenne, stand das Unfassbare in ihren Gesichtern geschrieben. Besonders eine, die ebenfalls Martha hieß, und der er, ob ihres Namens, besonderes Vertrauen entgegengebracht hatte, tat sich durch Flüstern und Herumtuscheln hervor.

      Grund genug schienen sie zu haben.

      Paul war in ein Kinderheim gebracht worden, weil ein Doktor einen Schatten auf seiner Lunge entdeckt hatte. Bei einer der üblichen Reihenuntersuchungen war ihm ein etwas ausgefranster Fleck am linken Lungenstiel aufgefallen, der in seiner Kontur der iberischen Halbinsel glich. Um dem Kleinen offenbar etwas Gutes zukommen zu lassen, hatte er den viermonatigen Aufenthalt in einem Kinderheim für lungenkranke Jugendliche verordnet.

      Was konnte einem zu einer Zeit, wo wenig zu besitzen schon fast an Reichtum grenzte, noch Besseres passieren, als in ein gut versorgtes Kinderheim geschickt zu werden. Seine Mutter, die immer noch mit großer Ausdauer und in streng auferlegter Enthaltsamkeit auf den Ernährer wartete, war mehr als erfreut gewesen. Sie hielt unerschütterlich an ihrem Glauben von der baldigen Heimkehr ihres Mannes fest. Die links und rechts unverhofft auftauchenden Spätheimkehrer gaben ihrer Hartnäckigkeit zudem recht. So fühlte sie sich durch die Möglichkeit, ihn für eine Weile gut versorgt zu wissen, entlastet. Paul umhegte sie als den jüngeren ihrer beiden Söhne in besonderem Maße und meinte, dass ihm deshalb auch etwas Besonderes zustünde.

      Den Tag vor der Abreise ins Kinderheim hatte Paul auf der Straße verbracht. Dort kannte er sich aus. Schließlich war sie sein zu Hause. Nach der Flucht vom Witten Berg waren sie im Westen gelandet. Zwischen den eingezäunten Weiden des Münsterlandes und den zerfleddernden Randzonen des Ruhrgebietes. Sie waren in den Keller einer Schule eingezogen, wo sie nur deshalb eine Bleibe gefunden hatten, weil der Vater einmal Lehrer an dieser Schule gewesen war, und der Hausmeister sich seiner als eines stillen, liebenswerten Mannes erinnerte.

      Die Schule war Zentrum einer Siedlung von Bergarbeiterhäusern, die schwarz und rußig, von Efeu überwachsen, mit runden Hofbögen, in ihren Gärten kauerten. Kolonien wurden die Siedlungen genannt, und es war nicht klar, wer sich diesen Namen für die Zechenhäuser ausgedacht hatte. Den traurig dreinblickenden Gorilla-Babys gleichend, hockten die Häuschen da. Kaum geboren, trugen sie schon den überjährigen Blick von Greisen in den Ruß geschwärzten Fensterläden. Jedes Haus hatte einen Stall gleich hinter der Tür, die direkt in die Küche führte, und nebenan war das Klo mit einem soliden Brett als Sitz und einem unerschütterlich darüber wachenden Gestank von Urin und Scheiße.

      Die Mutter hoffte auf das Wunder der Rückkehr und bastelte Girlanden für den heimkehrenden Vater. Paul sollte daran Teil haben, hatte sie ihm versprochen. Sie würde ihn sofort wieder zurückholen, wenn der Vater auch nur ein Lebenszeichen von sich geben würde.

      Die Häuser waren ringförmig um die Schule gebaut. Offenbar in Ermangelung von Phantasie hatten die Stadtväter die Straße denn auch Ringstraße genannt. Ein Zigeunerwagen, von einem Maultier gezogen, war morgens in die Ringstraße eingebogen. Außen war der Planwagen mit unzähligen Körben behängt, die im Takt des Hufgeklappers auf eine beschwingte Weise hin und her schaukelten. Aus dem Wagen klang das Lachen eines Mädchens herüber, vermischt mit Bruchstücken einer Melodie, die schief auf einer Mundharmonika geblasen wurde. Paul lief dem Wagen hinterher. Allzu dicht traute er sich nicht heran. Doch er hoffte, dass die Plane zurückgeschlagen würde, damit er in den Wagen blicken konnte. Das Bild des Wagens mit den munteren Körben, das Mädchenlachen und Hufgeklapper vermittelten ihm ein Gefühl heiterer Geborgenheit, die auf vier Rädern vor ihm her zockelte. Weil er dieses Glück nicht teilen konnte, das da eine Runde auf seiner Ringstraße drehte, folgte er dem Wagen lange nach. Längst hatten sie die Siedlung verlassen. Manchmal sah er, wie sich ein weißer Arm zwischen den Planen hindurch streckte und nach einem Korb angelte. Blindlings ergriff die Hand den Korb beim Henkel und holte ihn vom Haken herunter. Es folgte kein Kopf, den er so gerne gesehen hätte. Der Korb, an dem offenbar weitergeflochten werden sollte, verschwand hinter der Plane. Die Melodie aus dem Wagen war allmählich rhythmischer geworden, und Paul vernahm Händeklatschen, das von Kinderhänden stammen musste, denn der Klang war kurz und hell und hatte nicht den dumpfen Ton von klatschenden erwachsenen Händen.

      Sie waren in die nächste Siedlung gelangt. Die Häuser ähnlich denen in seiner Ringstraße bis auf die Dachpfannen. So merkte er nicht den Wechsel. Erst als die Häuser aufhörten, und sie zu den freien Feldern vor der Stadt kamen, wurde er gewahr, dass er sich verlaufen hatte.

      rrrrrrrrrrrr/ dass er hier fremd war/ nur mit dem wagen/ die deichsel/ die immer herumfuhr/ was für ein glück von vertrautheit/ aufgeschlagen hinter dem wagen/ köpfe auf/ waren einmodelliert die gefühle/ wieder zögernd der bebende boden/ er im wagen und zurück/ dem inneren/ weidenkörbe voller kuhgötter/ entschlossen die wagenhöhle behausen/

      Er lief auf den Wagen zu, in großer Angst, dass auch der verschwinden könnte und ihn allein zurücklassen würde, allein auf der Straße, von den fremden Häusern begafft, die gerade noch so vertraut schienen. Paul trommelte mit seinen Fäusten heftig auf die hölzerne Klappe an der Rückseite des Wagens. Die Plane wurde zurückgeschlagen, und das Mädchen, zu dem das Lachen und der Arm gehörte, streckte seinen Kopf heraus. »Was willst du?«

      Er hatte so lange auf das Gesicht gewartet, auf die schwarzen Haare, die dunklen Augen mit dem bernsteinfarbenem Hof und das Lachen, das noch zwischen den Lippen zu stecken schien, wie ein vergessener Kuss. Jetzt hatte er nur Angst. »Ich weiß nicht mehr, wo ich bin. Ich bin hinter euch hergelaufen. Jetzt habe ich mich verlaufen.« Sie wandte sich in das Innere des Wagens und begann in einer für Paul unverständlichen Sprache zu reden. Dann tauchten zwei Köpfe zu beiden Seiten des Mädchens auf. Es waren offenbar die Eltern, die gleichzeitig und sehr lebhaft auf Paul einredeten. Da er nichts verstand, begann er zu weinen.

      Kurzerhand machten sie die Wagenklappe los und hoben ihn mit einem energischen Ruck auf den Wagen, wo er neben dem Mädchen zu sitzen kam. Ein Flug in eine für ihn unerreichbare Höhe, von der er noch auf seinen zurückgebliebenen Schatten blicken konnte. Die Straße, die gerade noch empfundene Angst, alles schien auf einen Schlag entrückt zu sein, als er neben sich die Wärme des Mädchens und seiner Mutter spürte. Vollends überkam ihn ein Gefühl von Glück, das seine Brust und Schultern wärmte, als sie ihre Arme um ihn legten, und er mit einem Taschentuch die Tränen abgetrocknet bekam. Zwischen Schluchzern, die wie Seifenblasen in ihm aufstiegen, um in der Kehle zu zerplatzen, brachte er hervor, dass er sich verlaufen habe und nun den Weg nicht mehr nach Hause finden könne.

      Der Wagen setzte sich sacht in Bewegung. Er spürte unter sich das ungeduldige Rumpeln der Straße. Zwischen den Körben, die eifrig vor sich hin fiepten, und dem Scheppern des Geschirrs im Inneren des Wagens wurde er sanft, von den Körpern der beiden Frauen eingerahmt, zurück nach Hause gefahren. Das Licht drang spärlich