Schattenhunger. Ben Leo. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ben Leo
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742724397
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am Rand seiner Veranda darauf nieder, denn sein Bett wollte er vorerst nicht benutzen, der Gestank musste erst aus seinem Körper weichen. Bajo fühlte sich wirklich schlecht. Es waren nicht die Schmerzen. Nein, es war diese Ungewissheit, was jetzt wohl kommen würde. Und das unerträgliche Gefühl, etwas Falsches getan zu haben und jetzt nicht mehr zurückzukönnen. Bajo drehte sich auf die Seite, krümmte sich ein und fing leise an zu weinen.

      „Was machen denn die Kleider hier?“, rief Tante Nele am nächsten Morgen von unten. „Die riechen aber nicht gut…“. „Lass einfach liegen“, krächzte Bajo zurück. „Das räum ich nachher weg!“. Er konnte sich nur langsam bewegen, alles tat ihm weh. Er hatte kaum geschlafen und fühlte sich fürchterlich. „Noch eine Dusche wird jetzt guttun“, dachte er und schlummerte wieder ein. „Steh‘ jetzt endlich auf!“, rief Tante Nele, während Bajo in seinen Träumen gerade schon beim Haarewaschen war. Etwas energischer setzte seine Tante nach: „Du weißt, dass du heute zu deinem Vater musst?!“ „Oh nein! Das habe ich ganz vergessen“, murmelte Bajo und schrak entsetzt hoch. Er hatte es die ganze Zeit verdrängt. Sein Vater war für ihn nur eine einzige Qual. Trotz der Distanz kam er immer mit irgendwelchen Problemen bei ihm an. Vor allem, wenn er sich einen Handwerker sparen wollte, hörte Bajo die Worte: „Du musst lernen, die Sachen in Ordnung zu halten, denn das Ganze wird ja mal dir gehören“. Als hätte er in seiner Kindheit nicht schon genug gelitten, er musste ewig sein Handlanger sein, während seine Freunde spielten und sich vergnügten. Und dann prahlte sein Vater noch immer, was ER doch alles geschaffen hatte, natürlich ohne zu erwähnen, dass seine Frau und sein Sohn und die Handwerker, die von ihm abhängig waren, ewig für ihn als Sklaven schuften mussten. Als Bajo älter wurde, kam es dann eines Tages zu einem so heftigen Streit, dass seine Mutter beschloss, fortzugehen. Sie hatte sich heimlich eine Arbeit gesucht und nahm Bajo mit. Sein Vater schäumte vor Wut, als sie auf einmal nicht mehr da waren, aber er konnte nach den neuen Gesetzen Großmittenlands nichts dagegen unternehmen. Bald darauf schon zog Bajo zu Tante Nele, mit der er sich gut verstand und die sich freute, jemanden im Haus zu haben. Da begann für Bajo die schönste Zeit, er fand eine gute Stelle im Hauptkontor, zog mit seinen Freunden um die Ecken und genoss alles, was es zu genießen gab. Aber Bajo war zu schwach, um sich ganz aus den Fängen seines Vaters zu befreien. Und dieser rief nun heute zum Apell, weil er mal wieder etwas ganz Wichtiges zu verkünden hatte. Es ging dabei natürlich immer nur um Dinge, die sich um die Häuser, das Geld und die Besitztümer seines Vaters drehten. „Dieser egoistische, obergeizige Widerling“, rief Bajo gen Himmel blickend, „kann er mich nicht endlich in Ruhe lassen?!“ Aber obwohl Bajo seinen Vater hasste, erlag er immer wieder seinen Versprechungen, dass er einmal alles erben würde und tanzte dann am Ende brav bei ihm an.

      Es hatte begonnen zu regnen und war merklich kühler geworden, ein leichter Nordwind kündigte das Ende des Sommers an. Bajo saß auf dem Kutschbock neben Tante Nele. Sie fuhren nach Auenbrück, am anderen Ende, im nördlichen Kontoria, wo sein Vater in dem Elternhaus wohnte. Er besaß dort in der Nähe noch drei Mietshäuser und eine Taverne, die er verpachtete. Tante Nele erzählte und klagte unentwegt über ihre Arbeit, die Nachbarn und die Familie. Bajo versuchte wie jedes Mal, sie ab und zu durch einen Scherz oder eine lustige Grimmasse aufzuheitern, aber so ganz gelang es ihm an diesem Tage nicht. Zu tief nagte noch die Schmach vom gestrigen Abend an ihm. Zu groß war die Angst vor dem nächsten Arbeitstag. Und in diesem Zustand musste er, am einzigen freien Tag der Woche, auch noch zu seinem Vater. Tante Nele war zum Essen bei ihrer Schwester eingeladen und fuhr, nachdem sie Bajo abgeladen hatte, gleich weiter. Er winkte und schaute ihr noch ein Weilchen hinterher, doch dann konnte er es nicht länger hinauszögern, er musste es jetzt hinter sich bringen.

      „Hallo, da bin ich“, rief Bajo, als er durch die Gartenpforte kam. Wie immer war sein Vater mit irgendwas beschäftigt und grüßte nur beiläufig. „Geh schon mal in die Stube“, sagte er, nachdem er Bajo einen Moment hatte warten lassen. „Wir müssen was besprechen“. Bajo hasste diese Art einfach nur. Wie ein dummer Schuljunge musste er erst einmal danebenstehen, nur, um sich dann wieder, in ängstlicher Erwartung in die Stube zu setzen. Sein Vater liebte dieses Machtspiel, er veranstaltete es mit Bajo, seitdem dieser ein Kind war, und mit allen, die in irgendeiner Weise von ihm abhängig oder ihm untergeben waren. Humpelnd und mit schmerzverzerrtem Gesicht schleppte sich Bajos Vater in die Stube. Bajo sprang auf, um ihm beim Setzen zu helfen. „Du bist ein schlechter Schauspieler. Du spielst den sterbenden Schwan und willst nur, dass ich wieder irgendwas machen soll, damit du niemandem was bezahlen musst“, dachte sich Bajo und schaute angewidert in eine andere Richtung, wagte es aber nicht, seine Gedanken auszusprechen.

      „Nun, mein Sohn…“, begann sein Vater, „du weißt, was ich alles geschaffen habe, wie sehr ich mich krumm gemacht habe, um all dies aufzubauen.“ Es folgte das übliche Blabla, was ER Großes geleistet hatte, gefolgt von den Bekundungen, dass er doch im Grunde alles nur für seine Familie, besser gesagt für seinen Sohn, getan hätte und dass Bajo am Ende alles erben würde. Doch Bajo war schon lange klar, dass sein Vater aus purer Gier alles an sich raffte, was er konnte. Dabei benutzte er jeden, um seine Ziele zu erreichen, besonders gerne auch seinen Sohn. Nach außen hin versuchte sein Vater, sich als ehrgeiziges, aber dennoch fürsorgliches Familienoberhaupt darzustellen. Wie oft hatte Bajo ihn schon erlebt, wie er, Tränen in den Augen, sein Leid klagte, dass er doch alles für seine Familie tat, aber keiner dies anerkennen würde. Doch seine Tränen waren immer nur pures Selbstmitleid, weil die anderen nicht so spurten, wie er es gerne hätte. In Wahrheit war sein Vater egoistisch, berechnend und skrupellos. Am Ende seiner Monologe kam dann immer der eigentliche Punkt. Dann wollte er immer eine Entscheidung und hoffte, diese durch sein vorhergehendes Geschwafel in die richtige Richtung gelenkt zu haben. So war es auch heute: „Da ich nun also die Güter nicht mehr alleine betreuen kann“, führte er aus, „sollst du die Verwaltung übernehmen und dazu musst du wieder hierher nach Auenbrück ziehen!“

      Das hatte Bajo nicht erwartet, er hatte mit den üblichen Tiraden und der Bitte nach Unterstützung gerechnet, aus denen er sich immer einigermaßen rauswinden konnte. Doch wieder in das verhasste Elternhaus zurückziehen? Nie im Leben! „Was meinst du mit ‚verwalten`? Meinst du, ich soll meine Arbeit aufgeben und bekomme das Geld aus den Mietshäusern?“ fragte Bajo. „Nun werde mal nicht gierig, mein Sohn! Ich komme schon noch früh genug unter die Erde!“, herrschte sein Vater ihn an, „du kannst natürlich weiterarbeiten, von hier aus ist es auch nicht weiter zum Hauptkontor als von Helmershorst aus. Nein, du sollst dich um die Leute kümmern, Miete kassieren, die Bücher machen und Reparaturen durchführen, wenn sie nötig sind. Das kannst du auch gut nach der Arbeit machen. Das ist ja wohl nicht zu viel verlangt! Du willst doch am Ende mal alles erben, dann musst du schon beweisen, dass du dessen auch würdig bist!“ Bajo war voller Enttäuschung und Wut, doch er konnte sich nicht rühren, seine Unterlippe begann zu zittern und er starrte auf den Boden. Doch sein Vater fing jetzt erst richtig an, er machte ihm Vorhaltungen, was für ein nichtsnutziger Sohn er doch war und dass er, als er so alt war wie Bajo, schon neben dem Elternhaus das erste Mietshaus besaß. „Du ziehst hierher, sonst bekommst du gar nichts! Da gibt es eine Menge Witwen, die mich nur allzu gerne nehmen würden und deren Söhne es zu schätzen wüssten, was ich hier geschaffen habe! Du kannst es dir überlegen, bis zum nächsten freien Tag der Woche will ich deine Entscheidung!“, endete sein Vater, drehte sich um und ging, auf einmal nicht mehr humpelnd, fluchend und zeternd aus der Stube.

      Bajo saß da und wusste nicht, wie ihm geschah. Er war eigentlich ein gestandener Mann, doch nun fing er an, am ganzen Körper zu zittern, er konnte sich einfach nicht wehren. Er fühlte sich so schlecht, dass er sich fast übergeben musste, „Raus, ich muss hier raus“, dachte er nur und schleppte sich zum Eingang. Sein Vater war nicht zu sehen und er schlich sich leise vom Hof. Eigentlich sollte er warten, bis ihn Tante Nele wieder abholte, doch Bajo wollte einfach nur weg.

      Ziellos, fast schon verwirrt, eierte Bajo durch die Straßen. „Dieses miese Dreckschwein!“, fluchte Bajo in sich rein. „Ich soll wieder sein Handlanger sein und er kassiert fleißig. Es ist ihm scheißegal, was mit mir ist, Hauptsache, er kann gierig sein Geld zählen! Glaubt der, ich habe kein Leben?! Der wird doch über 100, der überlebt mich noch. Und was war ich dann? Der Sklave meines Vaters!“ Bajo setzte sich auf einen Mauersims und fing an zu weinen. „Meine ganze Kindheit, meine halbe Jugend habe ich verpasst, nur weil ich für den Gierhals schuften musste. Mein Rücken