Schattenhunger. Ben Leo. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ben Leo
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742724397
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Die letzten Tage hatten ihn wirklich ausgemergelt, alles tat ihm weh und doch war er froh, wenigstens frisch gewaschen und in trockener Kleidung dazusitzen.

      Ein Heulen weckte ihn. Er musste wieder eingenickt sein. Und wieder ein lautes Heulen. Bajo dachte sofort an einen Wolf, obwohl es doch noch ein wenig anders klang. Unter Schmerzen und mit knackenden Gelenken sprang er hoch und beeilte sich, seine noch feuchten Schuhe anzuziehen. Kaum hatte er diese über seine Füße gestreift, hörte er das Heulen wieder, jetzt nur viel näher. Seinen Rucksack schnappend lief Bajo los, doch die Laute kamen aus der Richtung, in die er eigentlich wollte. „Nicht schon wieder“, fluchte er und wich nach Südosten aus, „dieses Mal überlebe ich das nicht!“. Er überlegte sich, in der neuen Richtung wieder aus dem Wald heraus zu flüchten. Das Heulen war weiter in der Ferne und er trabte voran. Mehr und mehr Büsche versperrten seinen Weg und diese waren auch noch voller Dornen. Immer wieder verfing er sich darin und zerriss in der Hektik ein ums andere Mal seine frischen Kleider. Nun hörte er auch noch ein gewaltiges, eigenartiges Bellen, welches einem Wolf nicht ähnlich war. Bajo versuchte, die Geschwindigkeit zu erhöhen, aber durch die vielen Dornenbüsche wurde eher langsamer und schlussendlich zappelte er wie eine Fliege im Spinnennetz darin.

      Den Kopf hochreckend suchte er die Umgebung ab und erkannte einen schmalen Pfad, der allerdings wieder in seine ursprüngliche Richtung führte. Bajo hielt inne und lauschte, doch da er im Moment nichts Bedrohliches mehr ausmachen konnte, entschloss er sich, erst einmal dem Pfad folgend dem plagenden Gestrüpp zu entkommen. Mit sehr viel Mühe und etlichen Kratzern gelangte er schließlich wieder auf freien Waldboden. Blut lief ihm an Armen und Beinen herunter, so tief waren die Wunden. Doch das war sein geringstes Problem, denn nun vernahm er, nicht mehr weit entfernt, knackende Äste gepaart mit einem dumpfen Grollen. Bajo hatte nur eine einzige Chance: schräg am nahenden Untier vorbei und dann rennen, bis er zusammenbrechen würde. Und tatsächlich, trotz glitschender Schuhe legte er einen Lauf hin, mit dem er die Meisterschaft der alljährlichen Stadtumrundung Kontorias gewonnen hätte. Die Beschaffenheit des Bodens war gut, nur merkte er jetzt doch einen leichten Anstieg. Sich einigermaßen in Sicherheit wiegend, machte er eine Atempause. „Langsam müsste ich mich der Mitte des Grauenwaldes nähern…“, überlegte er, „…und ich lebe noch!“. Kaum allerdings hatte er diesen Gedanken verinnerlicht, war ihm der Jäger schon wieder auf den Fersen. Und das nicht mehr alleine. Aus zwei Richtungen hörte Bajo sie, als er wieder loshastete: „Die haben mein Blut geleckt, jetzt bin ich geliefert“. Und auch die Nacht kündigte sich schon wieder an. Das konnte kein gutes Ende für den armen Bajo nehmen. Voller Schmerzen setzte er zu einem letzten Lauf an. Immer mehr nach Luft japsend, immer wieder stolpernd und mehr und mehr mit schwindenden Sinnen quälte sich Bajo voran in die Dunkelheit. Er hörte nur noch sein eigenes Stöhnen und Hecheln, als er zusammenbrach, kopfüber in die Tiefe stürzte und einen letzten harten Schlag spürte.

      2.2 Eine bedeutende Begegnung

      Irgendetwas piesackte Bajo. Er öffnete die Augen ein wenig und sah gerade noch einen Kieselstein auf sein Gesicht zu kullern und gegen die Nasenspitze ploppen. Sein Kopf schmerzte stark. Als er die Augen endlich ganz geöffnet hatte, bemerkte er, dass er offensichtlich in einer kleinen Grube oder Höhle lag, die Füße gen Eingang gestreckt. Sein Kopf lehnte eingeknickt an etwas Hartem. Bajo fasste sich mit der Hand an den brummenden Schädel und spürte eine dicke Beule mit Blutkruste. Der harte Gegenstand entpuppte sich als Baumwurzel, er musste wohl in einem alten Bau unter einem großen Baum liegen. „Plopp, plopp“, wieder trafen ihn zwei hinabkullernde Kiesel im Gesicht. „Moment mal, da ist doch jemand“, dachte Bajo und alleine das Denken bereitete ihm schon Kopfschmerzen. Er versuchte seinen geschundenen Körper in eine sitzende Position zu bringen und tatsächlich war die Höhle dafür groß genug. Er befreite sich von seinem Rucksack und krabbelte zum Eingang, um nachzusehen, was da oben los war. In diesem Moment traf ihn ein größerer Kiesel am Kopf und er schrie vor Schmerz kurz auf.

      „Hat der Herr endlich ausgeschlafen?“, fragte eine Stimme von oben. Bajo war mehr als verwundert, kroch hoch in das Eingangsloch und streckte den Kopf heraus. Er erkannte eine Gestalt vor sich und als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah er dort einen großen Mann stehen, der sich auf einen seltsam geformten dunklen Stab stützte. Die Gestalt trug einen schlichten, schmalen dunkelbraunen Mantel, ein olivfarbenes Oberteil und eine ebenfalls eng geschnittene schwarze Hose. Vor den merkwürdig aussehenden Schuhen lag ein kleiner Haufen Kieselsteine, die dem Mann anscheinend als Vorrat zum Beschuss dienten, um Bajo zu wecken. Dieser hob den Kopf höher, um das Gesicht des Mannes erkennen zu können, aber der stand genau so, dass die Sonne an seinem Hut vorbei blendete. Langsam schob der Mann seinen Kopf vor das grelle Licht, jetzt konnte Bajo endlich sein Gesicht erkennen. „Du, Du, ich, ich kenne dich“, stotterte Bajo. „Du bist der Mann aus meinen Träumen!“, rief er mit krächzender, erregter Stimme. „Soso, ich bin also der Mann deiner Träume!?“, entgegnete dieser in einer starken und dennoch sanften Tonlage und zwinkerte dabei. Bajo war diese Stimme sofort angenehm und das nicht nur, weil er lange keine mehr gehört hatte. „Nein, nein, ich meine, ich habe dein Gesicht im Traum gesehen und du hast zu mir gesagt, ich solle aufbrechen“, tönte Bajo freudig von unten. „So, habe ich das?“, kam es zur Antwort. „Ja, wirklich, ich schwöre es dir!“, beteuerte Bajo und krabbelte nach draußen.

      Der Mann musterte ihn lange mit durchdringendem Blick. „Ich hätte nicht gedacht, dass du noch kommst“, murmelte er geheimnisvoll. „Spät, sehr spät, aber du bist da…“ „Dann stimmt es also!“, Bajo hüpfte euphorisch auf der Stelle, um sich gleich darauf den stechenden Kopf zu halten und sich schwindelnd an den Baum zu lehnen. „Du siehst schlimmer aus als der übelste Bettler aus Schichtstadt“, stellte der Mann fest. Und er hatte recht: Bajos Kleider waren zerrissen, überall waren Blutsflecken, Hände und Gesicht waren verdreckt, die Augen verquollen und das Haar völlig wirr. „Sag, wer bist du?“, fragte Bajo neugierig. „Wir müssen dich erst einmal wiederherstellen, es ist keine Zeit zu verlieren“, entgegnete der sonderbare Mann, ohne auf die Frage zu antworten. „Nimm deine Sachen und komm mit!“

      Sie liefen eine Weile durch den schönen Wald, es war Vormittag, die Vögel zwitscherten, die Sonne schien und Bajo fühlte sich sehr erleichtert. Der Mann gab ihm ein paar große Blätter in die Hand, die auf einem Haufen am Wegesrand lagen, und zeigte ihm eine Stelle, wo er seine Notdurft verrichten konnte. Als Bajo das getan hatte, gingen sie noch ein Stückchen weiter und gelangten an ein Flüsschen. Vier zusammengebundene Stämme dienten an einer Stelle als Brücke und Bajo sah auf der anderen Seite, zwischen ein paar Bäumen, einen riesigen Baumstumpf, der anscheinend bewohnt war, denn an der Seite war eine Feuerstelle mit qualmendem Abzug. An einer leicht abfallenden Stelle, ein kleines Stück flussabwärts, war es seicht genug, um hineinzugehen, Bajo musste sich ausziehen, bekam so etwas wie ein Stück Seife in die Hand und begann sich zu waschen. Der Mann nahm die alten Kleider mit den Worten: „Die werden wir wohl nicht mehr brauchen“ und entfernte sich über die Brücke zu dieser Art Haus.

      Als Bajo fertig war, stand der Mann, beladen mit allerlei Dingen, wieder vor ihm. Er reichte Bajo ein großes Tuch, um sich abzutrocknen und verstrich eine grünliche Paste auf dessen Wunden, die er, soweit es möglich war, mit langen Stofffetzen verband. Danach gab er Bajo schlichte Kleider in brauner und grüner Farbe, wobei sich dieser darüber wunderte, wie gut sie ihm passten. Die Füße in einem Paar leichter Schuhe aus einer Art Bast, trottete er über die Brücke zur anderen Seite, immer dem Mann hinterher. Es war tatsächlich ein Stumpf, der einmal zu einem riesigen Baum gehört haben musste. Anscheinend war er innen hohl, denn es gab eine große zweigeteilte Tür. Nahe der Tür traten nebeneinander die Auswölbungen zweier mächtiger Wurzeln hervor. In den gegenüberliegenden Rundungen waren zwei Holzplatten mit einer Stütze befestigt, auf denen jeweils ein Kissen zum Sitzen und eines zum Anlehnen lagen. So waren zwei bequeme Sitze entstanden, die es ermöglichten, sich gegenseitig anzuschauen, wenn man auf ihnen saß. Seitlich stand eine Art Lehmkamin mit einer Feuerstelle und einem Eisengitter darüber, worauf ein dicker Topf stand. Das Feuer brannte und es roch verführerisch nach Essen. Schräg oberhalb der Tür war noch eine kleine geschlossene Luke zu sehen. „Was musste das bloß für ein Riese gewesen sein?“, fragte sich Bajo und als hätte der Mann seine Gedanken gelesen, erklärte er: „Einst standen die ‚Himmelsfinger' im ganzen Wald. Aber