Schattenhunger. Ben Leo. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ben Leo
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742724397
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war, so pflegte er immer den guten Umgang und arbeitete fleißig. Aber obwohl, oder vielleicht auch gerade weil er so ein braves Leben führte, zog es ihn immer mal wieder in das verruchte Hafenviertel. Früher vertrank er mit seinen Kumpels gerne mal einen Teil seines Lohns in den Spielunken, wo leichtbekleidete Frauen zu Musik aus Quetschkommoden tanzten. Oder er verzockte sein Geld beim Kartenspielen in einem Hinterzimmer dieser Tavernen. Aber am Saufen und Spielen hatte Bajo schon lange kein Interesse mehr. Er bummelte einfach nur noch so zum Vergnügen durch die lebhaften Straßen.

      In letzter Zeit streifte er gerne auch mal an der Dirnengasse vorbei, so wie er es auch an diesem Abend tat. Eigentlich war es eine Schönheit mit leicht braunem Teint und verlockenden Rundungen, sie musste wohl aus Malikien stammen, die ihn in diese Gegend lockte. Bajo hatte sie vor zwei Monaten getroffen, als er einen Muggefugg in einem Lokal trank, welches in dieser warmen Sommernacht auch draußen Tische und Stühle aufgebaut hatte. Aus langer Weile hatte er mit Zuckerwürfeln und Zahnstochern Muster auf dem Tisch zusammengelegt. Er war ganz in sein Selbstmitleid versunken, als sie plötzlich vor seinem Tisch auftauchte und nach einem Stück Zucker fragte. Mit halboffenem Mund und großen Augen gab er ihr ein Stückchen, ohne sie zu fragen, was sie damit denn wolle. Sie lächelte ihn an, nahm den Zucker und ging weiter. Irgendwas war an diesem Abend mit Bajo geschehen. Er legte schnell ein paar Münzen auf den Tisch und lief in die Richtung, in die sie verschwunden war. An der Dirnengasse sah er sie dann einbiegen, doch als er dort ankam, war sie bereits verschwunden. Ein Stück ging er noch die Straße hoch, aber dann sprachen ihn die an den dunklen Hauseingängen stehenden Frauen an und er machte lieber kehrt, denn für so was war er viel zu schüchtern. Seitdem war er nun schon zum vierten Mal hier und druckste wieder an der Ecke herum. „Oh Mann, du blöder Hornochse, da siehst du jemanden, der dich anzwinkert und das nur für einen kleinen Moment und schon bist du verknallt.“, dachte er. „Und jetzt eierst du hier umher und weißt nicht, was du machen sollst. Armselig, wirklich armselig!“

      Bajo machte sich wieder auf den Weg in Richtung des Lokals, in dem er ihr begegnet war, natürlich heimlich hoffend, sie dort wiederzusehen. Nach ein paar Schritten fiel ihm ein großes Loch in einem Zaun auf, welches sich am Boden befand. Er bückte sich und schaute hindurch. „Aha“, sagte er und erkannte, dass sich dahinter die hier offene Kanalisation befand, welche zwischen den Häuserreihen längs führte. „Hmmh, das riecht ja wirklich nicht besonders lecker, aber hier geht es parallel die Gasse hoch. Da könnte ich unbehelligt langgehen und wer weiß, vielleicht…“, Bajo dachte nicht mehr länger nach und war schon hindurchgekrochen. Auf dem Pflaster neben der Rinne konnte er gut laufen und musste nur ab und zu über etwas Müll steigen. Auf diesem Weg konnte er die Rückseiten der Häuser begutachten und neugierig reckte er hier und da den Hals hoch, um etwas hinter den Gardinen der beleuchteten Fenster erkennen zu können. Aber wenn er überhaupt etwas sah, war es nicht von Bedeutung. Ab und zu schallte Musik nach draußen, manchmal auch Gejohle oder das Gegacker von Frauen. Bajo war schon daran, umzukehren, denn es war doch mühsam darauf zu achten, bei dem spärlichen Licht nicht zu stolpern oder gar in was Ekelhaftes zu treten, als er in einem oberen Stockwerk eines Hauses Licht und ein offenes Fenster sah. Er hörte eindeutig likische Musik! Jetzt war nur noch die Frage: Wie kam man da hoch? Er erinnerte sich an einige alte Kisten, die er kurz zuvor an eine Wand gelehnt gesehen hatte, und machte sich daran, diese vorsichtig und leise zu holen und aufzustapeln, sodass er an das Geländer des kleinen Balkons kam, der neben dem offenen Fenster war. Die Kisten reichten gerade so hoch, dass Bajo die Sprossen unten am Geländer erreichen konnte, an denen er sich nun hochzog. Er stieg auf den Balkon und spähte von dort um die Ecke. Da saßen ein paar Männer und Frauen, auf bunten Kissen, um flache Tische herum. Sie unterhielten sich angeregt, die Musik allerdings schien aus den vorderen Räumen zu kommen. Ihrem Aussehen nach mussten es Likier sein. Bajo tippte auf Maliken, denn die Männer hatten im Gegensatz zu den Taliken keinen Tohbar. Er schaute sich die Frauen, die er erkennen konnte, genau an, doch seine bezaubernde Schönheit war nicht unter ihnen. Bajo streckte den Kopf noch weiter raus und musste aufpassen, dass er nicht über das Geländer fiel. Eine der Frauen konnte er nur halb erblicken und das auch nur von hinten. „Dreh dich doch mal“, dachte er ungeduldig und verharrte gespannt.

      „Na, was haben wir denn hier?!“, ertönte eine laute Frauenstimme direkt neben ihm. Bajos Herz sprang ihm fast aus dem Hemd. Er erschrak so sehr, dass er rückwärts über das Geländer stürzte und mit einem Salto krachend auf einen alten Marktkarren fiel, welcher mit anderem Gerümpel an der Hauswand stand. Bajo rang nach Luft, denn der Aufprall war so heftig, dass ihm der Atem wegblieb. Keuchend und fast bewegungslos lag er nun auf dem Rücken und starrte nach oben. Da blieb ihm erneut sein Herz stehen; die Frau, die ihn da oben erwischt hatte, schaute schelmisch grinsend über das Geländer und er konnte im Schein einer Lampe, die ein Mann aus dem Fenster hielt, ihr Gesicht sehen. Das war SIE! Die Frau, die er gesucht hatte! Hin- und hergerissen zwischen den Schmerzen, die nun einsetzten und der Verzückung, seine heißbegehrte Schönheit endlich gefunden zu haben, lag Bajo so da. Er wollte etwas sagen, doch ihm fiel nichts ein und außerdem konnte er noch gar nicht wieder sprechen. „Hey, du elender Spanner!“, schrie der Mann mit der Lampe, nachdem er Bajo wohl erst jetzt zwischen den Trümmern entdeckt hatte. „Na warte, du elender Bastard, dich kriegen wir!“ Schon hörte Bajo, wie anscheinend eine Menge Leute drinnen die Treppe runterpolterten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht wandte er sich von der Schönen, die ihn nun lächelnd musterte, ab und begann, aus dem Gerümpel zu kriechen. Ein Schlüssel klimperte an der Hintertür, aufgebrachte Männerstimmen waren zu hören und zwei Häuser weiter bellte jetzt auch noch ein Köter. Panik erfasste Bajo. Endlich raffte er sich auf und fing an, entlang der Rinne zurückzuhumpeln. Die Männer waren jetzt draußen, „Da ist er!“, schrie einer mit stark likischem Akzent und Bajo vergaß seine Schmerzen, rannte schneller, immer wieder stolpernd, mal neben und mal in der Kloake. Die schimpfenden Verfolger kamen zum Glück nicht so schnell voran. Bajo sprang förmlich durch das Loch im Zaun und erschreckte auf der anderen Seite eine Gruppe betrunkener Seemänner. Er raffte sich wieder auf, und lief und lief, bis er nicht mehr konnte. Nach Luft ringend sank er schließlich auf eine Bank. Der Mob war ihm anscheinend nicht gefolgt.

      Allmählich kam er wieder zur Besinnung und merkte angewidert, wie sehr er nach Kloake stank. „Mensch Bajo, was machst du denn hier in dieser Gegend?“, fragte eine Stimme. Bajo blickte auf und erblickte einen Arbeiter, den er aus dem Hafen kannte. „Boah, sag mal, stinkst DU so? Und wie siehst du eigentlich aus? Hast du etwa mit den Schweinen einen Ringkampf veranstaltet?“, fragte dieser und fiel mit seinen Kumpanen in ein höhnisches Gelächter. „Ich, ich bin gerade… weil ich… äh, musste einfach mal hier… ich meine…“, stotterte Bajo mit hochrotem Gesicht. „Ich, ich muss dann mal weiter“, sagte er, sprang auf und eilte los. „Stinkeschweinchen komm doch mal, aus deinem großen Urinal!“, grölten die Arbeiter hinter ihm her.

      Auf dem weiteren Weg nach Hause wich Bajo jedem Menschen aus, dem er begegnete und als er endlich ankam, schlich er sich gleich in den Garten hinter dem Haus. Er fiel, alle viere von sich streckend, auf die kleine Wiese vor seinem Baumhaus. Der Sternenhimmel über ihm war so friedlich, doch in seinem Kopf tobte die Hölle: „Was für ein Desaster! Dieses Mal bin ich zu weit gegangen! Und in diesem Zustand hat mich auch noch einer von der Arbeit gesehen. Dann weiß es bald das ganze Kontor. Oh nein, das darf einfach nicht wahr sein!“

      Nachdem er das leise Schnarchen von Tante Nele aus dem Haus wahrgenommen hatte und seinen eigenen Gestank selbst nicht mehr ertragen konnte, machte er sich zum nahegelegenen Fluss auf. Dazu brauchte er nur den Garten des Nachbarn zu durchqueren und schon war er am Waschplatz von Helmershorst. Mit samt der Kleider und den Schuhen ging er dort ins seichte Wasser. Er rubbelte seinen ganzen Körper ab, tauchte immer wieder unter und schabte am Ende pausenlos mit einem flachen Stein über seine Kleider. Als er das Gefühl hatte, den gröbsten Dreck los zu sein, ging er mit glubschenden Geräuschen in seinen Schuhen zurück zum Baumhaus. Hier zog er sich nun ganz aus und seifte sich unter seiner selbstgebauten Dusche gründlich ab. Erst dabei bemerkte er seine vielen Wunden und Prellungen. „Wohl nichts gebrochen“, dachte er erleichtert, nachdem er seinen Körper abgetastet hatte. „Aber wahrscheinlich wird mich eine üble Krankheit heimsuchen, nach diesem Kloakenbad!“ Krankheiten fürchtete Bajo aufs Äußerste. Ein kurzer schneller Tod, gut, wenn es sich nicht vermeiden ließe. Aber Dahinsiechen und elendig zu Grunde gehen, nein, das wäre das absolute Grauen. Seine Kleider legte Bajo ausgebreitet