Bajo bestellte nach dem Brot noch zwei Honig-Krapfen und einen großen Muggefugg, einem extrastarken Kaffee mit ein wenig Milch. Genüsslich futterte er die Krapfen auf und lehnte sich dann entspannt zurück, schlürfte seinen Muggefugg und beobachtete das Treiben im Rondell. „Ja, die Arbeit, immer die gleiche Arbeit“, sinnierte Bajo. „Gern würde ich mal was anderes machen, aber was? Am liebsten würde ich ja ganz aufhören und in andere Länder reisen, Abenteuer erleben. Aber wovon bezahlen? Mein Erbe ist in ferner Zukunft und gespart habe ich nicht viel. Und die arme Tante Nele? Kann ich sie wirklich so einfach im Stich lassen? Tja, was bleibt mir, man kommt einfach nicht raus aus dem Käfig…“ Die Mittagspause war vorbei, er zahlte und trottete wieder zurück zum Kontor, seine Stimmung war wieder an einem Tiefpunkt angelangt.
Bajo hatte seine Aufträge abgearbeitet und der Dienst war für den heutigen Tag beendet. Es war Spätsommer und die Sonne schien noch milde auf sein Gesicht. Er entschloss sich, den langen Weg nach Hause zu gehen. Dieser führte zunächst mit einer kleinen Fähre, die direkt neben den Hafenanlagen fuhr, zur anderen Seite des Flusses. Der Weg ging dort weiter an ein paar Gutshöfen, Feldern und Wiesen vorbei, um dann wieder auf den Rand Kontorias zu stoßen, genauer gesagt auf Helmershorst, wo ebenfalls eine Fähre fuhr.
Die Natur und das Zwitschern der Vögel besänftigten Bajo bei der kleinen Wanderung immer ein wenig. Dann stimmte er wieder mal seine verzweifelten Lieder an, die er sich ausgedacht hatte und die er nur für sich sang. Das war auch gut so, denn sollte sich ein anderer bei dem schrecklichen Singsang nicht gleich die Ohren zuhalten, dann würde er bei den Texten sicher die Stadtwache rufen und Bajo ins Verrückten-Haus sperren lassen:
„Leider bin ich dumm wie Brot – Bin so viel wert wie ein Haufen Kot - Ich hab‘ im Leben nichts gelernt – darum bin ich so verhärmt!“
Oder auch:
„Mein Leben ist nur Dreck – Denn ich habe keinen Zweck – und des-we-he-gen – und des-we-he-gen, muss ich auch endlich weg!“
Und weiter:
„Gibt‘s was zu holen im Leben – hau ich garantiert daneben – denn ich bin nur ein Idiot – und darum wär‘ ich lieber… Lalala Lalala!“
Dies sang Bajo mit seiner unmelodischen, schrägen Stimme vor sich hin, um dann auch noch in ein so grauenhaftes Pfeifen überzugehen, dass jegliches Getier in der Umgebung die Flucht ergriff.
An einer Biegung, wo eine abgeknickte Buche einen komfortablen Sitz bot, machte er eine Pause und schaute zum Rand des Grauenwaldes hinüber, welcher die natürliche Grenze von Großmittenland in Richtung Osten bildete. Der Grauenwald hieß selbstverständlich nicht umsonst so. Unzählige Abenteurer sollten in den vergangenen Jahrhunderten schon versucht haben, das Gehölz zu erkunden, nie war auch nur einer wieder zurückgekehrt. Viele Geschichten um Hexen, Zauberer und Ungeheuer wurden erzählt, was, logischerweise, nie bewiesen werden konnte. Einig waren sich die Leute nur in einem: In diesem Wald lauerte das wahre Grauen und deshalb gab es auf dieser Seite des Flusses, natürlich in gebührendem Abstand, auch nur wenig Besiedlung.
Bajos Stimmung war wieder an einem Punkt, wo ihm alles egal war. Die Arbeit, sein Leben, alles war nur noch eine Last, die er nicht mehr tragen konnte. Und er hatte wieder diesen Gedanken, ja fast schon diesen Drang, einfach loszulaufen, schnurstracks in den Wald…
Der Marsch über die Wiesen und Felder war anstrengend gewesen, aber irgendwie hatte er ihm auch eine gewisse Kraft gegeben. Nach einer schönen Dusche, welche er sich im Garten aus alten Rohren und einem großen Bottich gebaut hatte, saß Bajo nun in seinem Hänge-Sitz, eingekuschelt in ein dickes Kissen, einen süßen Muggefugg schlürfend und schaute über die Häuser hinweg in die untergehende Sonne. Eigentlich träumte er immer gerne davon, einmal reich zu sein. Er malte sich aus, wie er seine Stadtwohnung im schicken Theater-Viertel von Kontoria einrichten würde. Wie er von dort aus Reisen ins ferne Ginochi in Concorsien oder auch nach Mondaha in Malikien unternahm. Und natürlich hätte er in jeder Stadt eine wunderschöne Geliebte…
Aber diese Träumereien konnten ihn nicht mehr befriedigen. Es wusste nur allzu genau, dass er mit seiner Arbeit nur ein beschauliches Leben führen konnte. Selbst wenn er tatsächlich einmal zum Vorsteher aufsteigen würde, hätte er es nicht wirklich weit gebracht. Und auch wenn er von seinem schrecklichen Vater einmal die Mietshäuser erben würde, so wären diese so alt und morsch, wie er es selbst dann sein würde.
Früher war es Bajo eigentlich auch egal gewesen, dass er nur ein einfacher Bürger war, er war eben unbeschwert und hatte wenigstens eine gewisse Freude am Leben. Ja, Freude. Freude war ihm fremd geworden und er befürchtete, auch nie wieder Freude im Leben zu verspüren. Er sah nur noch den immer gleichen Trott. Er war ein kleines Zahnrad einer sich wieder und wieder ächzend drehenden Mühle, aus der er nicht entkommen konnte. Er hatte sich schon, soweit er konnte, zurückgezogen, in der Hoffnung, irgendwann frei zu sein und fortzulaufen. „Du musst nun aber wirklich wenigstens zum Geburtstag deines Vaters gehen!“ oder „Wenn du nicht wenigstens einmal im Monat deine Mutter besuchst, dann wird sie noch an Einsamkeit sterben!“, lag ihm Tante Nele ständig in den Ohren. Als wenn sich sein Vater jemals um Geburtstage geschert hätte, ihn interessierte nur sein Hab und Gut und wie er noch mehr bekommen konnte! Und seine arme Mutter verstand sowieso nicht mehr, was um sie herum geschah. Sie ließ sich in ihrer Wohnung verkommen und schimpfte auf alles und jeden und sollte bald in ein Altenheim gebracht werden. Aber seine Eltern zu verlassen, das würde Bajo mittlerweile tun, das würde ihm nicht mehr schwerfallen.
Sorgen machte ihm nur seine liebe Tante Nele. Sie war ein herzensguter Mensch, der zu niemandem „Nein“ sagen konnte. Jeden Tag fuhr sie mit ihrer Kutsche ans andere Ende von Kontoria, um dort die Papiere eines kleinen Tuchhändlers in Ordnung zu halten, wobei sie doch ihre eigenen Angelegenheiten kaum geregelt bekam. Nach dem mühevollen Arbeitstag, freute sie sich, wenn Bajo sie am Abend mit seinen mittelmäßigen Kochkünsten beglückte. Dann erzählte sie von den Geschehnissen des Tages, was sie von den Nachbarn gehört hatte und was hier und dort so passiert war. Und immer wieder fragte sie Bajo, ob er sie denn auch lieb‘ hätte. „Natürlich hab‘ ich dich lieb!“, versicherte Bajo ihr jedes Mal und meinte es auch so. „Wie lieb denn?“, hakte sie dann nach. „Am allerliebsten auf der Welt!“, versicherte Bajo und kraulte ihr dabei liebevoll die Nackenhaare. Danach setzte sie sich in die warme Stube, um dort stundenlang Patiencen zu legen und ihr Pfeifchen zu rauchen. Manchmal beobachtete Bajo sie heimlich dabei, sah ihre traurigen Augen und wusste, dass sie genauso verloren war, wie er selbst.
Es war noch früh, die Sonne erreichte gerade das Baumhaus und Bajo hatte sich schon fertiggemacht. Heute war ein besonderer Tag, denn Bajo durfte zusammen mit einigen Mitstreitern und natürlich dem Leiter des Hauptkontors zur Ehrung in den Palast. Das königliche Hauptkontor hatte wieder mal einen Rekord aufgestellt, was den Umschlag des letzten Jahres betraf. So sollte nun dem Direktor feierlich eine königliche Würdigung übergeben werden. Bajo mochte solche Veranstaltungen nicht, aber es war eine willkommene Abwechslung von der Arbeit. Und wann kam man schon mal in den Palast von Kontoria?!
Bajo hatte noch etwas Zeit und schmierte Tante Nele ein paar Stullen für die Arbeit, während er nebenbei seinen geliebten Muggefugg trank. „Tante Nele, du musst jetzt aufstehen, ich habe dir den Kaffee warmgehalten“, sagt er mit lauter Stimme, damit Tante Nele aufhören sollte