Schattenhunger. Ben Leo. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ben Leo
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742724397
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Tante Nele, schon freudig eine Stulle mampfend.

      Als Bajo das Hauptkontor erreichte, standen die anderen schon aufgeregt und durcheinanderredend am Eingang. Alle hatten sich, genauso wie Bajo, fein gemacht und lobten sich gegenseitig, wie gut sie doch aussehen würden. Dann fuhren die Droschken vor, der Direktor saß schon zusammen mit den drei Hauptvorstehern in der Ersten. In die zwei folgenden stiegen nun die ‚auserwählten‘ Angestellten und Arbeiter und der Tross startete Richtung Palasthügel. Während die anderen scherzten und gackerten, genoss Bajo die Kutschfahrt. Er mochte es, aus dieser Perspektive die ‚Große Straße des Handels‘ zu erleben. Das kannte er von Ausflügen mit Tante Nele, die ihn manchmal mit ihrer kleinen Kutsche mitnahm, aber dieses Mal sah er alles von einer vornehmen Droschke aus. Es ging über die mittlere Brücke rüber zum Hügel, da dieser Weg direkt zum Eingang des Palastes führte. An jedem der drei Tore wurden sie von den Wachen penibel überprüft. Bajo steckte den Kopf weit aus dem Droschkenfenster und musterte während jeder Prozedur neugierig die Umgebung. Die Gemäuer der Stadthäuser und Stadtpaläste waren von solider Architektur und aus edlen Materialien. Seltener ‚Blauer Marmor‘ aus den Steinbrüchen in Talikien, ‚Schwarzholz‘ aus den Wäldern von Nham und kunstvoll gearbeitete Verzierungen und Figuren aus weiß-glitzerndem ‚Sternbasalt‘ konnte er bewundern. Auf den Ringstraßen sah er Bedienstete, Boten, Handwerker und Lasttiere, welche ab und zu einer protzigen Sänfte Platz machen mussten. Nachdem sie die dritte Mauer hinter sich gelassen hatten, fuhren die Droschken im großen Innenhof des Palastes vor. Alle mussten sich sammeln und auf einen Führer warten. Bajo drehte sich immer wieder im Kreis, um auch ja alle Details der Anlage in sich aufzunehmen. Auch als die Gruppe in die Räumlichkeiten geführt wurde, hingen seine Augen an riesigen Wandbildern, großen Brokat-Teppichen, herrlichen Vasen und funkelnden Kronleuchtern. Erst als die kleine Abordnung am Rand des großen Festsaals ihren Platz gefunden hatte, richtete Bajo seine Aufmerksamkeit auf die Menschen, die sich dort versammelt hatten.

      Nach etwa einer Stunde hatten sich alle eingefunden. Sein Platz war zwar in letzter Reihe, ganz an der Wand, aber dadurch, dass sein Stuhl auf dem erhöhten Simms stand, konnte er wunderbar ins Rund blicken. Der Saal war dreigeteilt. Im ersten Bereich vor dem großen Thron stand der Tisch seiner Majestät, angeschlossen links und rechts Tischreihen mit vornehm betuchten Stühlen.

       Dort nahm die Elite des Reiches Platz:

      - Der Kondukt von Kontoria und gleichzeitig König von Großmittenreich Havat Merka nebst Gattin

      - Die Gesandte Melinda Feising, Tochter von Lord Feising aus Kornburg

      - Der Gesandte Jammund Hembrock, Sohn von Fürst Hembrock aus Thalaria

      - Und aus Erzingen Baron Grohling höchstpersönlich

       Des Weiteren:

      - General Harding - Befehlshaber der Armee Großmittenreichs mit seinem Adjutanten

      - Der Kommandant der Stadtwache Kunwald Bratsenf, vom Volk als ‚Der dicke Kuno‘ betitelt

      - Gesine zu Plauen, die höchste Rechtsprecherin des Landes

      - Der Wortführer der Kaufmannsgilde Greif von Hort

      - Schatzmeister Silirius Goldmund

      - Und Reichsverwalter Erus Krotmann, den man hinter vorgehaltener Hand auch ‚Die Kröte‘ nannte.

      Im zweiten Abschnitt, in den Tischreihen davor, auf kaum weniger schönem Mobiliar, saßen weitere hohe Verwalter, Militärs, Banker, Geldverleiher und reiche Händler, welche zum Teil in Begleitung ihrer besseren Hälften zugegen waren. Unter ihnen saß nun auch der Direktor des Hauptkontors.

      Der dritte Bereich, welcher etwa die Hälfte des Saals ausmachte, war für ‚Ausgewählte aus dem Volk‘ bestimmt. Man saß hier auf einfachen, doch stilvollgearbeiteten Holzstühlen und –bänken an langen, schmalen Tischen und Mundschenke waren bemüht, allen Anwesenden einen Becher Wein zu reichen. Dann unterbrachen plötzlich Trompeten und Hörner von der Empore aus, das Gebrabbel im Saal mit einer Triumph-Fanfare. Der oberste Verkünder des Königs trat an ein prächtig geschmücktes Pult in der Mitte der Empore und begann mit starker, feierlicher Stimme seine Rede:

      „Ehrwürdige Gesandte und Aristokraten, hochverdiente Kaufleute und Geldverwalter, tapfere Soldaten, fleißige Bürger von Kontoria. König Merka hat euch heute wieder zusammengerufen, um der alljährlichen Verleihung der Ehren-Medaillen für verdiente Bürger des Reiches beizuwohnen. Unsere Majestät will damit seine Dankbarkeit dem Volke gegenüber zum Ausdruck bringen und als Anerkennung für besonders herausragende Leistungen diese Auszeichnungen aus purem Gold vergeben!“

      Ein rauschender Applaus brandete auf und der Verkünder begann den Namen und die Verdienste des ersten Preisträgers zu verlautbaren. Bajo hörte nicht mehr weiter hin und musterte lieber die Herrschaften aus den besseren Reihen. Er versuchte sich auf Grund der Haltung, Mimik und Gestik einen Eindruck der jeweiligen Person zu verschaffen: Der König selbst war unentwegt bemüht, einen freundlichen und interessierten Eindruck zu vermitteln, wobei er jedoch eine gewisse Arroganz nicht ganz verbergen konnte. ‚Lady Melinda‘ hingegen schien sich wirklich für jeden Einzelnen zu freuen und hörte genau zu, wenn die jeweiligen Taten verlesen wurden. Der ‚dicke Kuno‘ glotzte unentwegt und unverhohlen auf die Rundungen und Ausschnitte der Damen. Man hätte fast den Sabber tropfen sehen können, wenn er sich nicht ewig die Zunge um die Lippen geschleckt hätte. Der Schatzmeister, der neben ihm saß, starrte verachtungsvoll in die Menge. Er war augenscheinlich gar nicht bei der Sache und schien in üble Gedanken versunken zu sein. Gesine zu Plauen und Greif von Hort hatten zu jedem Kandidaten etwas beizusteuern, denn sie tuschelten und nickten unentwegt. General Harding und sein Adjutant dagegen waren wie erstarrt. Sie verzogen fast die ganze Zeit keine Mine und Bajo fragte sich, ob man das wohl bei der Armee lernen würde. Baron Grohling und Reichsverwalter Krotmann saßen zusammen an einem Tisch. Sie waren recht unauffällig, klatschten brav, wenn es passte und wechselten ab und zu ein paar Worte. Doch bei der Verlesung der Auszeichnung eines Rüstmeisters, der ein Katapult entwickelt hatte, welches zehn Langspeere hintereinander, oder auch gleichzeitig abschießen konnte, waren sie doch sehr erregt und wechselten seltsame Blicke mit Silirius Goldmund.

      Als Bajo sich den letzten Kandidaten, Jammund Hembrock aus Thalaria, vornahm, zuckte er zusammen. Dieser schaute nämlich Bajo an und hatte ihn wohl beobachtet, wie er die Anwesenden inspiziert hatte, anstatt der Verleihung zu folgen. Bajo fühlte sich ertappt, aber Hembrock Junior lächelte ihn wissend an und er lächelte zurück. Just in diesem Augenblick stieß ihn der Verlademeister, der zu Bajos Gruppe zählte, in die Seite. „Jetzt sind wir dran!“, rief er aufgeregt und reckte den Hals noch höher. Nach den Lobpreisungen des schon etwas müde klingenden Verkünders über die Rekordumsätze des Hafens, bekam der Direktor die letzte goldene Medaille verliehen. „Und nun, da unsere Majestät seine herausragenden Bürger belohnt hat, wollen wir uns alle dem Gaumenschmaus unserer Palastküche hingeben. Hoch lebe der Kondukt! Hoch lebe der König!“ „Hoch lebe unser Wohltäter, hoch, hoch, hoch!“, rief die Menge, so wie sie es vorher gelernt hatte und schon füllten sich die Gänge mit Laufburschen und Serviererinnen, um die Versammlung zu verköstigen. Die Musiker auf der Empore fingen an, beschwingte Lieder zu spielen, welche allerdings im aufkommenden Getöse und Geklapper kaum Beachtung fanden.

      Bajo hatte seinen Krustenbraten mit Kartoffelklößen und Pflaumensoße genossen. Da er aber keinen Wein und auch keinen Met trank und auch kein Interesse an den lallenden Unterhaltungen hatte, machte er sich daran, etwas umherzulaufen. Er schlenderte durch einen Seiteneingang, der zu den Pissoirs und Latrinen für die Gäste führte. Es hatte sich schon eine kleine Schlange gebildet und man unterhielt sich mit den Palastwachen. Da diese nun gerade abgelenkt waren, schlenderte Bajo, wie zufällig, in Richtung der königlichen Kammern und keiner schien ihn zu bemerken. Sein Herz fing an zu pochen und er spürte ein Kribbeln aufsteigen. „Was tust du da, du Narr?!“, fragte er sich selbst. „Wenn die dich erwischen, war‘s das, dann geht’s in den Kerker, für lange Zeit!“, dachte er, doch zum Umkehren war es schon zu spät. Er schlüpfte um die Ecke und schritt, ja nicht zu hastig, einen kleinen Gang entlang. Bajo gelangte an eine große Tür, die nur angelehnt war und lugte hinein.