Schattenhunger. Ben Leo. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ben Leo
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742724397
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      Irgendwo, am anderen Ende der Welt, gab es einen Flecken Erde, den man die „Außenwelt“ nannte, denn von hohen Bergen und dem „Ewigen Schnee“ abgeschnitten, lebten dort die Völker auf einer Art Halbinsel unter sich. Die Natur und die Bewohner dieser Region hatten erstaunlich viele Ähnlichkeiten, mit dem, was wir in diesen Landen heute kennen und sogar die folgende Geschichte, die sich dort zugetragen hatte, könnte so, oder so ähnlich, bei uns passiert sein…

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      1.1 Kontoria

       1. Kapitel - Bajo

      „Bajo! Bajo, sieh auf deine Hände! Sieh auf deine Hände!“, Bajo starrte den Mann vor sich an und begann, langsam seinen Kopf zu senken. Als er seine Hände erblickte, die er mit aufgespreizten Fingern vor sich hielt, wurde er sich seiner plötzlich ganz bewusst. Es war ihm klar, dass er sich an irgendeinem Ort befand, aber es war nicht sein Zuhause! Er blickte auf und sah wieder diesen freundlichen Mann vor sich. „Bajo, es ist Zeit aufzubrechen, verliere keine Zeit mehr!“, sagte dieser.

      „Bajo, Bajo, wach auf, es ist Zeit für die Arbeit!“, rief dessen Tante Nele, bei der er wohnte und die ihn immer weckte, wenn Bajo einmal verschlief. Abrupt öffnete er die Augen. Wie betäubt lag er da, er fühlte sich seltsam. Da war er wieder, dieser Mann. Schon oft hatte er ihn im Traum gesehen, doch sobald er wach war, hatte er nach kurzer Zeit alles vergessen, was er geträumt hatte. Bajo versuchte, sich nun schnell zu erinnern. „Es ist Zeit aufzubrechen, verliere keine Zeit mehr“ - aber wohin sollte er aufbrechen? „Und ja, stimmt, das hat er schon mal zu mir gesagt, aber wohin nur soll ich gehen?“, dachte sich Bajo. Während er angestrengt versuchte, sich das Gesicht des Mannes erneut vor Augen zu holen, ermahnte ihn die Stimme von unten erneut, aufzustehen und alles verblasste. „Oh, wie ich mein Leben hasse!“, fluchte Bajo, schleppte sich zum Fenster seines Baumhauses und gab seiner Tante Nele zu verstehen, dass er wach war.

      Ja, Bajo Tisterbrock lebte tatsächlich in einem Baumhaus. Als er damals zu seiner Tante zog, schlief er anfänglich noch unten in ihrem Häuschen, in einem kleinen Zimmer. Doch nicht nur, dass dieses Zimmer zu klein war, seine Tante Nele rauchte auch ständig ein Pfeifchen mit Timberkraut, und dieser Gestank machte Bajo wahnsinnig. Außerdem schnarchte Tante Nele so laut, dass er oft nachts kein Auge zu tat.

      Eines Morgens wandte sich Bajo, nach so einer schlaflosen Nacht, gen Himmel und flehte: „Wenn es irgendeine Macht auf dieser Erde gibt, so möge sie mir einen Ausweg zeigen, denn ich halte es nicht mehr aus!“ Erwartungsvoll starrte er weiter nach oben, doch nichts geschah. Als er den Kopf senkte, wollte er schon fluchen, dass ihm, wie immer, nichts und niemand helfen würde, da fielen ihm auf einmal die zwei großen, dicken Eichen auf, die hinten im Garten standen. Und wie er sie genauer betrachtete, kam ihm plötzlich die Idee, dass er dort oben wohnen müsste, frei vom Rauch und Schnarchen und ja, vielleicht sogar frei von all seinen Sorgen! So machte er sich also daran, das alte Werkzeug aus dem Schuppen zu holen. Vom Schreiner Hoblin erhielt er günstig einige Holzreste und vom Schmied Hammertreu besorgte er sich Nägel und Scharniere. Jeden Tag nach der Arbeit werkelte er voller Freude an seinem neuen Heim und binnen eines Monats hatte er es tatsächlich geschafft: Ein großer Raum mit zwei Fenstern und einer Tür und selbstverständlich einem Dach darüber. Darin ein breites flaches Bett, ein alter Kleiderschrank, ein Tischchen und zwei Stühle, ein Regal und sogar ein kleiner alter Bollerofen, der ihm im Winter Wärme spendete.

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      Der Clou des Ganzen war eine große Veranda, über welcher ein Holzbrett mit einer Lehne an vier Seilen hing. Zwei dicke Kissen ließen ihn darauf sitzen wie ein likischer König. Dies war Bajos Lieblingsplatz! Mit Hilfe eines geschickt konstruierten Seilzugs war es ihm möglich, den Sessel in alle Richtungen zu drehen. Von dort aus konnte er die gesamte Nachbarschaft im Auge behalten, sogar bis zum Wasserplatz von Helmershorst und der dortigen Schenke ‚Zum kleinen Garten‘ konnte er sehen. Oder aber er drehte sich in die andere Richtung und schaute in die Ferne über den Fluss, Wiesen und Felder hinweg in die Morgensonne und träumte von einem besseren Leben.

      „Bajo, es wird Zeit, dein Muggefugg wird sonst kalt!“, schallte es wieder von unten. „Jaja, ich komme ja schon“, krächzte Bajo hinunter. Immer noch wie im Tran zog er sich an, in Gedanken bei dem Mann aus dem Traum. „Ja, weg will ich hier schon lange“, dachte er sich, „Aber wohin nur soll ich gehen?“

      Bajo musste sich sputen, um noch rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Helmershorst war ein äußerer Teil von Kontoria, der Hauptstadt von Großmittenland oder auch Großmittenreich, wie es viele ältere Bewohner noch nannten. Außerdem war Kontoria eine große Handelsmetropole, in der das Geld regierte und das Hauptkontor, wo er arbeitete, lag mitten im Zentrum. Es waren über die Jahrhunderte sehr viele Menschen zugezogen, sodass die Stadt immer größer und breiter wurde und verschiedene Viertel entstanden. Die ursprünglichsten waren das Hafen-, das Kontors- und das Palastviertel. Die Handwerker wurden aus diesen Stadtteilen verdrängt und siedelten sich, in verschiedene Berufe unterteilt, im Handwerkerviertel neu an. Währenddessen wurden in den Randdörfern ein Haus und ein Hof nach dem anderen abgerissen und Mietshäuser gebaut. Zur Unterhaltung der hart arbeitenden Bevölkerung entstanden Amüsiermeilen, das Theaterviertel und sogar eine große Arena für Wettkämpfe. Aber auch in diesen Bereichen stand mittlerweile das Verdienen an erster Stelle.

      Jeden Tag fiel Bajo der Gang zur Arbeit schwerer. Auch wenn er eine gewisse Befriedigung durch seine Beschäftigung verspürte, die Freude war längst verloren und Sinnlosigkeit hatte sich breitgemacht.

      Ja, alles erschien Bajo in letzter Zeit immer unbedeutender und wertloser. Er hatte alle seine Freunde vernachlässigt und so traf er in seiner freien Zeit kaum noch einen von ihnen. Manchmal erinnerte er sich an Zeiten, in denen er mit ihnen um die Ecken gezogen war, wann er nur konnte. Im Sommer gingen sie am Fluss schwimmen und stellten den Mädchen nach, im Winter zockten sie bis in die Morgenstunden die Karten bei Met und einem Pfeifchen Hennefkraut. Aber irgendwann konnte Bajo keine Freude mehr daran empfinden. Immer dieselben Gespräche, immer dieselben Orte, dieselben Menschen. Weder die Wirkung des Mets noch der Rausch des Hennefs konnten ihn noch euphorisch stimmen. Er zwang es sich nur noch rein, um dabei zu sein, fühlte sich zunehmend schlechter und zog sich deswegen mehr und mehr zurück.

      Einsamkeit hielt in Bajos Leben Einzug, obwohl er jeden Tag mit den Leuten sprach und auch seine Tante Nele hatte, an der er sehr hing. Aber all das war nur noch das Abspulen der immer gleichen Floskeln, des immer wiederkehrenden Tuns, wie der Zeiger einer Uhr, der sich unweigerlich gleich im Kreise drehen musste, ohne wirklich voranzukommen und von der Zeit verschlungen wurde.

      Bajos Beine waren schwer und er schlurfte mit Mühe Richtung Stadt. Wie viel Kraft hatte ihm das Treiben in Kontoria doch einst gegeben! Als Hauptstadt des Reiches und Umschlagplatz der Waren aus aller Herren Länder war hier immer etwas los. Ob Eisen, Kupfer und Waffen aus Erzingen, Vieh und Pferde aus Thalaria oder Getreide aus Kornburg, alle Waren des Landes wurden hier umgeschlagen. Doch Kontoria hatte seine Handelswege auch in ferne Länder ausgeweitet. So kamen Röstbohnen für Kaffee, Gewürze und Seidenstoffe aus Likien im Osten, Kakao für Schokolade, Farbstoffe und Muschel-Schmuck aus Marabia im Süden, köstliche Sorten Wein, anmutige Kleider, Trockenfisch und Kohle aus Concorsien im Westen und Walfischtran und Felle aus Trihaven, in der Nähe des ewigen Schnees, im Norden. Sämtliche ferne Länder und Städte hatten hier in Kontoria eine Vertretung, denn alle wollten vom Handel profitieren und ihren Einfluss geltend machen.

      Die Stadt war voller Kontore und Händler, die Kontoria immer reicher und reicher machten, auch wenn man das in den Straßen nicht wirklich sah. Doch näherte man sich dem Palast, der sich auf einem Hügel am Fluss erhob, konnte man ahnen, welche Schätze sich hinter den Mauern verborgen hielten. Drei steinerne Schutzwälle, einer besser bewacht als der nächste, musste man passieren, um in den wirklichen Palast und Hauptsitz des Landes zu gelangen. Im äußeren Ring residierten die Kontors-Eigner und Reeder in prächtigen Stadthäusern, deren Front vom jeweiligen Banner der Familie geschmückt war. Jede Residenz hatte natürlich Nebengebäude