müssen. Im deutschen Norden gelten die Irrwische für
die Seelen ungetauft verstorbener Kinder. In Thüringen
haben die Leute ein Sprüchwort, wenn einer recht
hastig rennt: Du läufst ja wie ein feuriger Mann.
58. Die Wiesenjungfrau und das Niesen
Auf einer grünen Wiese bei Auerbach, eine Meile von
Lorsch, hütete ein Hirtenbub seines Vaters Kühe,
stand müßig und dachte an gar nichts. Da fühlte er auf
einmal einen sanften Backenstreich auf seiner Wange
von einer weichen Hand, und wie er erschrocken sich
umdrehte, so stand eine wunderschöne Jungfrau vor
ihm da, schloßschleierweiß, und tat den Mund auf,
ihn anzureden. Aber der Bub tat vor Schreck einen
Brüll, als wenn er am Spieße stäke, und rannte davon,
nach Auerbach zu und hinein. Nach einiger Zeit hütete
der Bube abermals auf jener Wiese und stand träumend
in der heißen Mittagsstunde am Waldesrain. Da
raschelte es am sonnigen Rain, als schlüpfe ein Eidechs
ins Dorngebüsch, der Knabe blickte hin, da sah
er eine kleine Schlange, die trug in ihrem Mund eine
blaue Blume und sprach: Guter, erlöse mich! erlöse
mich! Mit dieser Blume öffnest du droben im alten
Schloß Auerbach die verfallenen Keller und die Fässer
voll Gold, und alles ist dein! Nimm die Blume,
nimm die Blume! – Aber dem Buben wurde es ganz
unheimlich und graulich, er hatte all sein Lebetage
noch keine Schlange sprechen hören – und lief von
dannen, als wenn der wilde Jäger hinter ihm drein
wäre. Als der Spätherbst kam, hütete derselbe Bube
zufällig wieder an derselben Stelle, und da empfing er
wieder einen sanften Backenstreich und sah im Umdrehen
wieder die weiße Jungfrau, welche ihn flehend
ansprach: Erlöse mich! erlöse mich! Ich will dich
reich und glücklich machen. Du allein kannst es, nur
du allein. Ich bin verwünscht, zu harren und zu wandeln,
und kann nicht eher zur Seligkeit eingehen, bis
aus einem Kirschkern, den ein Vöglein auf diese
Wiese fallen läßt, ein Kirschbaum groß und stark gewachsen
ist, der Baum abgehauen und aus ihm eine
Wiege gemacht wird. Nur das erste Kind, das in solcher
Wiege geschaukelt wird, kann dadurch mich erlösen,
daß es mit der blauen Blume, die ich hier halte,
hinauf zur Burg geht und dort die unterirdischen
Schätze hebt. Du bist das Kind, das in solcher Wiege
gewiegt worden. – Als der Bube diese Rede hörte, zitterte
er, und es lief ihm eiskalt über den Nacken, denn
er hatte kein Herz, und wenn der Mensch kein Herz
hat, ist er ein Tropf. Und kreuzigte und segnete sich
und schüttelte mit dem Kopfe. – Wehe mir! Wehe!
rief da die Jungfrau. So muß ich wieder hundert Jahre
harren und wandeln, wehe dir, daß du kein Herz hast,
so sollst du auch keins finden! – Und tat einen lauten
Schmerzensschrei und verschwand.
Der Bube aber ging von diesem Tage an still und
bleich umher und hat nicht lange gelebt.
Eine ähnliche Sage von dem Kirschkern, Baum und
Wiege, an die sich Hoffnung auf Erlösung knüpft,
geht von den Trümmern der Burgruine Raueneck in
Österreich. Dort bei Auerbach aber ist's auch sonst
nicht geheuer. Über das Flüßchen, die Auerbach, geht
ein Brückchen. Als einstens jemand darüberschritt,
hörte er es im Wasser niesen, und zwar dreimal, und
dreimal sprach er: Gott helf! Da stieg die Gestalt
eines Knaben aus dem Wasser und rief: Gott danke
dir, du hast mich erlöst! Darauf hab' ich dreißig Jahre
gewartet. Ein anderer hatte oberhalb der Brücke auch
dreimal niesen hören; zweimal hatte er Gott helf! gerufen,
weil aber niemand einen Dank zurückrief, so
schreit er beim dritten Male: Hole dich der Teufel! –
Da hat es im Wasser einen Wall getan, als wenn sich
jemand in demselben heftig umwälze, und darauf ist
alles stille gewesen.
59. Das versunkene Kloster
Ohnweit des Fleckens Neuenkirchen im Odenwalde
liegt ein stilles einsames Wiesental mit einem kleinen
Weiher ohne Zufluß und ohne Abfluß. Dort hat vorzeiten
ein Nonnenkloster gestanden, und darinnen war
eine junge Novize, die hatte das Gelübde noch nicht
abgelegt. Sie war zum Kloster gezwungen worden
und liebte einen Ritter von einer der nahen Burgen,
der oft zur Nachtzeit, wenn alles ruhte, heimlich in
den Klostergarten kam und die Geliebte sah und
sprach. Eines Abends kam ein müder greiser Pilger an
die Klosterpforte und begehrte Einlaß und Obdach
über Nacht, allein die Priorin und der ganze Konvent
wiesen ihn ab. Nur die Novize bat, des alten Mannes
Bitte doch zu gewähren, allein da sie noch nicht
Nonne war, stand ihr nicht einmal zu, einen Rat zu
geben, und die Pforte des Klösterleins blieb dem Pilger
verschlossen. Da murmelte derselbe einen Fluch,
schwang seinen Stab, schlug dreimal damit an die
Pfortenmauer, und da versank das Kloster mit Kirche
und Konventhaus lautlos in die Tiefe, und wo es gestanden,
breitete eine stille Wasserfläche geheimnisvoll
sich aus. Der Pilger aber schwand hinweg, an
seine Stelle trat der liebende junge Ritter – und traute
gar nicht seinen Sinnen, als er nichts mehr vom Klo-
ster sah. Laut rief er den Namen der Geliebten durch
die öde Stille, die ihn umschauerte, da scholl es aus
der Tiefe herauf: Morgen zu dieser Stunde kehre wieder
zu dieser Stätte! Einen roten Faden, der auf dem
Wasser schwimmen wird, erfasse dann!
Der Ritter tat in der folgenden Nacht, wie ihm geboten
war, er faßte den Faden und zog an ihm, und da
stand sein liebes Lieb vor ihm und küßte