Nun wird die Frage: welche Gegenstände kann diese Poetische Kraft besser an die Seele bringen, Gegenstände des Raums, coexsistirende Gegenstände, oder Gegenstände der Zeitsuccessionen? Und um wieder sinnlich zu reden: in welchem Medium wirkt die Poetische Kraft freier, im Raume, oder in der Zeit? –
Sie wirkt im Raume: dadurch, daß sie ihre ganze Rede sinnlich macht. Bei keinem Zeichen muß das Zeichen selbst, sondern der Sinn des Zeichens empfunden werden; die Seele muß nicht das Vehikulum der Kraft, die Worte, sondern die Kraft selbst, den Sinn, empfinden. Erste Art der anschauenden Erkenntniß. Sie bringt aber auch jeden Gegenstand gleichsam sichtlich vor die Seele, d.i. sie nimmt so viel Merkmaale zusammen, um mit Einmal den Eindruck zu machen, der Phantasie ihn vor Augen zu führen, sie mit dem Anblicke zu täuschen: zweite Art der anschauenden Kenntniß, und das Wesen der Poesie. Jene Art kann jeder lebhaften Rede, die nicht Wortklauberei oder Philosophie ist: diese Art der Poesie allein zukommen und macht ihr Wesen, das sinnlich Vollkommene in der Rede. Man kann also sagen, daß das erste Wesentliche der Poesie wirklich eine Art von Malerei, sinnliche Vorstellung sey.
Sie wirkt in der Zeit: denn sie ist Rede. Nicht blos erstlich, so fern die Rede natürlicher Ausdruck ist, z.E. der Leidenschaften, der Bewegungen: denn dies ist der Rand der Poesie; sondern vorzüglich, indem sie durch die Schnelligkeit, durch das Gehen und Kommen ihrer Vorstellungen, auf die Seele wirkt, und in der Abwechselung theils, theils in dem Ganzen, das sie durch die Zeitfolge erbauet, energisch wirket. Das erste hat sie auch mit einer andern Gattung der Rede gemein; das letzte aber, daß sie einer Abwechselung, und gleichsam Melodie der Vorstellungen, und Eines Ganzen fähig sey, dessen Theile sich nach und nach äußern, dessen Vollkommenheit also energesiret – dies macht sie zu einer Musik der Seele, wie sie die Griechen nannten: und diese zweite Succession hat Hr. Leßing nie berühret.
Keines von beiden, allein genommen, ist ihr ganzes Wesen Nicht die Energie, das Musikalische in ihr; denn dies kann nicht Statt finden, wenn nicht das Sinnliche ihrer Vorstellungen, das sie der Seele vormalet, vorausgesetzt wird. Nicht aber das Malerische in ihr; denn sie wirkt energisch, eben in dem Nacheinander bauet sie den Begriff vom sinnlich vollkommnen Ganzen in die Seele: nur beides zusammen genommen, kann ich sagen, das Wesen der Poesie ist Kraft, die aus dem Raum, (Gegenstände, die sie sinnlich macht) in der Zeit (durch eine Folge vieler Theile zu Einem Poetischen Ganzen) wirkt: kurz also sinnlich vollkommene Rede.
Nach diesen Voraussetzungen wollen wir zu Hrn. Leßing zurück. Bei ihm ist der vornehmste Gegenstand der Poesie Handlungen; nur aber Er kann aus seinem Begriffe der Succession diesen Begrif ausfinden; ich gestehe es gerne, ich nicht.
»Gegenstände, die auf einander, oder deren Theile auf einander folgen, sind Handlungen.«3 Wie? ich lasse so viel ich will auf einander folgen, jedes soll ein Körper, ein todter Anblick seyn; vermöge der Succession ist keines noch Handlung. Ich sehe die Zeit fliehen, jeden Augenblick den andern jagen – sehe ich damit Handlung? Verschiedene Auftritte der Natur kommen mir vor Augen: einzeln: todte: einander nachfolgend: sehe ich Handlung? Nie wird P. Kastells Farbenklavier mit seinem successiven Vorspielen der Farben, und wenn es auch Wellen- und Schlangenlinien wären, Handlungen liefern: nie wird eine Melodische Kette von Tönen, eine Kette von Handlungen heißen. Ich läugne es also, daß Gegenstände, die auf einander oder deren Theile auf einander folgen, deßwegen überhaupt Handlungen heißen: und eben so läugne ich, daß weil die Dichtkunst Successionen liefre, sie deßwegen Handlungen zum Gegenstande habe.
Der Begriff des Successiven ist zu einer Handlung nur die halbe Idee: es muß ein Successives durch Kraft seyn: so wird Handlung. Ich denke mir ein in der Zeitfolge wirkendes Wesen, ich denke mir Veränderungen, die durch die Kraft einer Substanz auf einander folgen: so wird Handlung. Und sind Handlungen der Gegenstand der Dichtkunst, so wette ich, wird dieser Gegenstand nie aus dem trocknen Begrif der Succession bestimmt werden können: Kraft ist der Mittelpunkt ihrer Sphäre.
Und dies ist die Kraft, die dem Innern der Worte anklebt, die Zauberkraft, die auf meine Seele durch die Phantasie und Erinnerung wirkt: sie ist das Wesen der Poesie. – Der Leser sieht, daß wir sind, wo wir waren, daß nämlich die Poesie durch willkührliche Zeichen wirke; daß in diesem Willkührlichen, in dem Sinne der Worte ganz und gar die Kraft der Poesie liege; nicht aber in der Folge der Töne und Worte, in den Lauten, so fern sie natürliche Laute sind. –
Hr. L. indessen schließt aus dieser Folge von Tönen und Worten alles; nur sehr spät fällt es ihm ein,4 daß die Zeichen der Poesie willkührlich wären: allein auch denn ponderirt er nicht, was der Einwurf: Poesie wirkt durch willkührliche Zeichen, sagen wolle.
Denn wie löset er diesen Einwurf? »Dadurch, daß mit der Schilderung körperlicher Gegenstände die Täuschung, das Hauptwerk der Poesie, verlohren gehe, daß also zwar Rede an sich, aber nicht die sinnlich vollkommenste Rede, die Poesie, Körper schildern könne.«5 Die Sache scheint jetzt an besserm Orte. Eben weil die Poesie nicht Malerisch gnug seyn kann, bei Schilderung körperlicher Gegenstände: so muß sie sie nicht schildern. Nicht, damit sie nicht Malerei sey, nicht weil sie in successiven Tönen schildert: nicht weil der Raum das Gebiet des Malers, und blos Zeitfolge das Gebiet des Dichters sey – ich sehe bei allem keine Ursache. Das Successive in den Tönen ist, wie gesagt, dem Poeten wenig: er wirkt nicht durch sie, als natürliche Zeichen. Aber wenn ihn seine Kraft verläßt, wenn er mit seinen Vorstellungen unabhängig von seinen Tönen die Seele nicht täuschen kann: ja, dann geht der Poet verlohren, dann bleibt nichts als ein Wortmaler, als ein symbolischer Namenerklärer. Aber daß sie hier noch nicht am besten Orte sey, mag – sein eignes Beispiel zeugen. Wenn es Hallers Endzweck ist, uns in seinen Alpen, den Enzian, und seinen blauen Bruder, und die ihm ähnlichen oder unähnlichen Kräuter Versmäßig kennen zu lehren; allerdings verliert er alsdenn den Zweck des Dichters, mich zu täuschen, und ich, als Leser, meinen Zweck, mich täuschen zu lassen: Dies ist alsdenn der Grund, und kein andrer. Aber wenn ich nun von Hallers Gedichte zu einem Botanischen Lehrbuche gehe: wie werde ich da den Enzian und seine Brüder kennen lernen? Wie anders, als wider durch successive Töne, durch Rede? Der Botanist wird mich von einem Theile zum andern führen: er wird mir die Verbindung dieser Theile klar machen: er wird das Kraut meiner Einbildungskraft theilweise und im Ganzen vorzuzählen suchen, was freilich das Auge mit Einmal übersiehet: er wird alles thun, was bei Hrn. L. der Dichter nicht thun soll. Wird er mir verständlich werden? Darum ist nicht die Frage, wenn ich seine Worte verstehe: er muß mir klar werden, er muß mich auf gewisse Art täuschen. Kann er dies nicht: sehe ich die Sache blos im Einzelnen, deutlich, nicht aber im Ganzen, anschauend, ein: so werde ich alsdenn alle Regeln, die Hr. Leßing dem Dichter giebt, auch dem Verfasser eines Botanischen Lehrbuchs geben können. Ich werde zu ihm sehr ernsthaft sagen:7 »Wie gelangen wir zu der deutlichen Vorstellung eines Dinges im Raume, eines Krauts? Erst betrachten wir die Theile desselben einzeln, hierauf die Verbindung dieser Theile, und endlich das Ganze. Unsre Sinne verrichten diese verschiedenen Operationen mit einer so erstaunlichen Schnelligkeit, daß sie uns nur eine einige zu seyn bedünken, und diese Schnelligkeit ist unumgänglich nothwendig – Gesetzt nun also auch, der schriftliche Kräuterlehrer führe uns in der schönsten Ordnung von einem Theile des Gegenstandes zu dem andern; gesetzt, er wisse uns die Verbindung dieser Theile auch noch so klar zu machen: wie viel Zeit gebraucht er dazu? Was das Auge mit Einmal übersiehet, zählt er uns merklich langsam nach und nach zu, und oft geschieht es, daß wir bei dem letzten Zuge den ersten schon vergessen haben. Jedennoch sollen wir uns aus diesen Zügen ein Ganzes bilden: dem Auge bleiben die betrachteten Theile beständig gegenwärtig: es kann sie abermals und abermals überlaufen; für das Ohr hingegen sind die vernommenen Theile verlohren, wenn sie nicht in dem Gedächtnisse zurückbleiben. Und bleiben sie schon da zurück: welche Mühe, welche Anstrengung kostet es, ihre Eindrücke alle in eben der Ordnung so lebhaft zu erneuern, sie nur mit einer mäßigen Geschwindigkeit auf einmal zu überdenken, um zu einem etwanigen Begriffe des Ganzen zu gelangen! – Solche Beschreibungen mögen sich, wenn man die Blume selbst in der Hand hat, sehr schön dagegen recitiren lassen; nur für sich allein sagen sie wenig oder nichts.«