Was ist nun das letzte, der den Fußvölkern aus hundert Städten gnug war? Es sey, wie Ernesti will, der den Anfall einer Armee aus hundert Städten, geschweige denn aus einer, aushalten könnte. Oder wie der Scholiast will, der die Bilder von Fußvölkern aus hundert Städten auf sich hätte eingegraben haben können: alsdenn stimmt diese Erklärung in den Zusammenhang der Beschreibung von der fürchterlichen Aegis. Oder wie andre wollen, der Helm, den die Fußvölker aus hundert Städten zu heben, zu tragen kaum hinreichten: diese Erklärung dünkt mir nach dem Tone Homers die beste; denn sie giebt das stärkste Bild von der innern Macht der Göttin, die sich hier in dem Tragen eines Helms, auf eine stille erhabne Weise äußert. – Es sey indessen welche von diesen Erklärungen es wolle: keine ist erdacht, um die Stelle zu lindern, sondern nur den Sinn Homers zu erklären, und nach allen dünkt mir doch die, obgleich uralte, die Hr. L. annimmt:18 der Helm, unter welchem sich so viel Streiter, als hundert Städte in das Feld zu stellen vermögen, verbergen können,« diese dünkt mir unter allen die letzte. Wo ist je ein Helm dazu gewesen, um zu sehen, wie viel Streiter unter ihm Raum haben? wie müssen die Helden stehen, wenn sie mit dem Helme, wie mit einem Scheffel sollen gemessen werden? wie wäre also Homer auf dieß kindische oder Romantische Bild gekommen, die Streiter von hundert Städten, sich in einem allgemeinen Blindekuhspiele hierunter verkriechen zu lassen? u.s.w. Kurzum! Homer giebt doch kein Maas der Minerve an ihrer Statur des Körpers geradehin; sondern läßt uns den Schluß von ihrem Helme auf ihre Größe, oder, wenn die mir schicklichste Erklärung gölte, vielmehr auf ihre innere Stärke, »sie setzte den Helm aufs Haupt, der den Kräften eines Fußvolks aus hundert Städten zu schaffen geben könnte,« welch ein stilles Bild ihrer Göttlichen Stärke!
Mars, der Menschenwürger, in allem roh und ungeheuer, in seinem Anfalle und in seinem Geschreie – warum sollte ers nicht auch in seinem Hinsturze seyn? Und da erlaubt sich Homer das Bild, daß er, so wie er zehn tausend Menschen gleich aufschreien, auch im Falle sieben Hufen Landes19 bedecken kann: ein Gigantischer Kerl! aber das ist auch Mars! Würde Homer jeden andern Gott ihm nachschreien, und im Falle nachstrecken lassen? Wie würde wohl der hohen Juno, oder der lieblichen Venus eine so seltene Stellung lassen? – Zudem mißt Homer seinen Kolossus, da er liegt: aufrecht wagte ers nicht, uns den ungeheuren Aufblick abzuzwingen. Zudem ists blos im Kampfe der Götter mit Göttern, wo Homer alle Kräfte zusammen nimmt, einen Gigantenkampf, der sich von einem Menschlichen Gefechte unterschiede, zu schildern. In Schlachtordnung mit Menschen zusammengestellt, Führer Menschlicher Heere, ist die übermenschliche Statur »die alle natürliche Maaße weit übersteiget,« ganz verschwunden. Mars und Minerve, da sie ein Heer auf dem Schilde anführen, können sich durch goldene Kleider, durch Schönheit, durch eine ansehnliche und auszeichnende Statur in ihrer Rüstung unterscheiden; denn sie sollen ja Götter auf dem Schilde vorstellen – sie können in dieser ansehnlichen Gestalt vorragen, und die Menschenvölker etwas niedriger20 seyn; aber an einen sieben Hufen langen Mars ist ja hier nicht zu gedenken, und ich weiß nicht, wie Hr. L. eine Stelle für sich anführet,21 die nur sehr wenig von seiner Assertion beweiset. Homer lindert die Größe der unter Menschen wandelnden Götter hier so, als sie Clarke und Ernesti am vorigen Orte nicht lindern wollten, und überhaupt gehört die Vorstellung auf dem Schilde hier nicht zur Sache.
Es ist Zeit, daß ich ein Ende mache. Größe, Stärke, Schnelligkeit sind bei Homer nicht gleich wichtige Prädikate, um seine Götter von seinen vorzüglichsten Helden zu unterscheiden.22 Selbst von Stärke und Schnelligkeit wird niemand, der den Homer auch nur ein einziges mal flüchtig durchlaufen, diese Assertion zugeben. Diomedes überwältigt die unkriegerische Venus, und Diomedes war doch nicht einmal Achilles. Er überwältigt Mars, und hier mag Dione für mich das Wort führen.23
Per Individualcharakter der Homerischen Götter und Göttinnen ist also das Hauptaugenmerk, nach welchem sich auch ihre Größe und Stärke richtet. Hier kommt kein Allgemeinsatz in Betrachtung: Charakter ist hier über Gottheit.
Es giebt also bei ihm Göttinnen, die an Stärke unter den Helden bleiben: Göttinnen also auch, die an Größe den Menschen gleich seyn müssen: Götter, die eben nicht größer sein dörfen. Für das erste zeuge Venus: für das zweite Juno, Venus, und vielleicht alle Göttinnen: für das dritte Apollo.
Ferner: Größe ist niemals Hauptzweck des Dichters, um aus ihr Stärke zu folgern; sondern nur immer da, um dem Bilde der Macht und Hoheit nicht zu wiedersprechen.
Kann diese also durch andre Merkmaale erkannt werden, um so gefälliger dem Dichter: und welches ist ein besseres Kennzeichen von Hoheit, als Macht in der Wirkung, Schnelligkeit in der Bewegung?
Aus dieser also läßt Homer auf jene schließen: nicht aber umgekehrt. Aus dem Winke Zevs, aus dem Schritt Neptuns, aus dem Wurfe der Minerva auf ihre Größe, nicht aber im Gegentheil.
So wie Er gerne in seiner Schöpfung zwischen Himmel und Erde bleibt:24 so überspannet er auch nie gern die Phantasie in dem Maaße der Größe. Wo ein Zug hierüber nöthig war, ward er eingestreuet, und gelindert.
Insonderheit unter Menschen gelindert: denn zu einem Göttertreffen,25 und einem Götterhimmel, ist schon eine kleine Ueberspannung zum Wunderbaren μωρον seiner Götter nothwendig. Wer kann etwas schildern, das er nie gesehen, das er blos durch Menschenerhöhung trifft?
Und auch hier ists für mich kein Axiom, »daß der Dichter seinen Göttern eine Größe gegeben, die alle natürliche Maaße weit übersteiget.« Denn Homer hat bei dem Unendlichen selbst lauter natürliche Maaße, und auch deßwegen unter tausend andern Ursachen ist er mein Dichter.
Ob endlich die Bildhauer das Kolossalische, das sie ihren Götterstatuen öfters ertheilten, aus Homer entlehnt?26 – Diese Frage dünkt mich so, als jene Indianische: worauf ruht die Erde? auf einem Elephanten! und worauf der Elephant? – Von wem nämlich mag denn Homer das Kolossalische entlehnt haben, das er, hie und da, diesem und jenem Gotte giebt? Mich dünkt, man könne in Aegypten den Ursprung von diesen und mehreren Homerischen Ideen finden, insonderheit an Orten, wo das Alte der Göttererzälung, wo die Tradition von Mythologischen Anekdoten herrschet, die statt des Schönen, nach welchem er sonst seine Götter schaffet, ins wüste Große gehen. Ich habe Lust, über ein Paar Proben dieser Behauptung einige fliegende Schriftchen27 zu lesen, die zu gut scheinen, um unter Schriften ihrer Art zu verfliegen, insonderheit, da mir da Aufgabe im Ganzen betrachtet: »was hat Homer von den Aegyptern entlehnet? wie hat er die alten Sagen voriger Zeiten in das Schöne seiner Kunst verändert?« groß und noch ungenutzt vorkommt.
1 p. 131–136. Laok.
2 Laok. 135.
3 E. 744. ed. Clark-Ernest.
4 Βοωπις ποτνια Ηρη.
5 Iliad. ϑ'. 198. 199.
6 Iliad. ξ. 163. etc.