Und ists doch bei Sophokles Philoktet, bei einem Meisterstücke der Bühne! »Wie manches, sagt Hr. Leßing,22 würde in der Theorie unwidersprechlich scheinen, wenn es dem Genie nicht gelungen wäre, das Widerspiel durch die That zu erweisen.« Ich glaube, schwerlich. Was in der Theorie wahrhaftig unwidersprechlich ist, und nicht blos so scheint, wird nie von einem Genie widerlegt werden, zumal wenn die Theorie in unsern unerkünstelten Empfindungen läge. Mich dauert die Mühe, die sich Herr Leßing giebt, Sophokles zu rechtfertigen, und den Engländer Smith zu widerlegen;, beide brauchen es nicht: und wenn sie es brauchten, wenn Sophokles Hauptzweck wäre, durch die Aeußerungen des körperlichen Schmerzes seinen tragischen Endzweck zu erreichen: so hätte L. mit allem, was er Gutes sagt, wenig gesagt.
Aber Sophokles, das tragische Genie, fühlte nur gar zu viel dagegen, diesen Zweck zu erreichen, und gieng ganz einen andern Weg, der ihm nicht mißrathen konnte, und den Hr. L. wie es scheint, von einer Nebenseite gesehen. Ich muß aus dem vorigen Eindrucke, den ich davon geliefert, einige Züge zurücknehmen:
1. Der erste Begriff von Philoktetes ist der Begriff eines Verlassenen, Kranken, Elenden, von Menschen, verrathenen Einsiedlers, eines Robinson Crusoe, dessen Jammervolle Höle uns gezeigt wird: diese Situation setzt Hr. L. mit der ihm gewöhnlichen Stärke aus einander.
2. Der Elende soll noch einen neuen Streich von der List seines alten Feindes leiden: hier schwillt unsere Theilnehmung, und der Kontrast zwischen Ulysses und Neoptolemus macht die ganze Scene Menschlich.
3. Der Chor und Neoptolem drücken die Pfeile des Mitleids tiefer in unser Herz: sie singen sein Elend in vollem Maaße. Wie begierig sind wir nun, den Mann zu sehen, der hier in der wüsten Insel eine besondere Scene spielt, und auf den neues Unglück lauert. In diesem ganzen Akt ist noch kein Philoktet zu sehen: noch weniger die Vorstellung von seinem körperlichen Schmerz Hauptidee. Sophokles hat in diesem Akt dreierlei Vorsicht, uns erst auf Philoktet lange vorzubereiten, ehe er auftritt: das Schwerste und Untheatralische in Erzälung und nicht in Handlung zu zeigen: unser Herz und unsre Phantasie ihm zu sichern, damit wir erst – auch nur seinen Anblick ertragen lernen. Und gleich als ob dieser noch nicht gnug vorbereitet wäre, muß den wilden Mann ein fern her murmelndes Ach anmelden, das sich nähert, und –
1. Nun sind durch den Anblick der Fremden die Seufzer weg, völlig weg. Warum das? warum läßt sie Sophokles so ganz hinter der Scene? Erst muß er ihn nicht blos vor Verachtung sichern, sondern seinem ganzen ersten Anblicke nach, ist Philoktet ein leidender Held. Ich weiß nicht, warum L. diesen ersten Eindruck, in dem der Held erscheint, nicht verfolget; wimmern haben wir ihn kaum von fern gehört, jetzt sehen wir dulden. Mitten unter verbissenen Schmerzen steht und spricht der Menschenfreund, Grieche, Held – warum hat Hr. L. das Interesse nicht mehr entwickelt, das er als Grieche, als ein theilnehmender Freund der Fremden, als der Verehrer Griechischer Helden, wirket? Man kann kaum mehr für ihn sympathisiren, als man schon gestimmet ist.
2. Und noch zeigt er eine große Seite. Der eben jetzt Flehende hört Ulysses neuen Verrath, und wie ist der flehende Elende plötzlich in einen Helden verwandelt?
3. In einen Helden, der gegen seine Feinde noch der ungedemüthigte Stolze bleibt: Originalzug der Griechischen Größe, »Liebe gegen die Freunde, unwandelbarer Haß gegen die Feinde!«23 Und wer anders als ein Redlicher, kann Neoptolem seine Pfeile und sein Leben so großmüthig anvertrauen? – ein solcher Mann ist nicht blos auf alle Wege vor Verachtung gesichert: er hat unser ganzes Herz.
4. Das Chor bereitet uns auf die Scene des Elendes, und ist offenbar in dem Tone der Ehrfurcht gegen einen Helden, der da duldet, der so lange geduldet hat, nicht, der da schreiet. – Wie wenig, wie wenig ist doch also der Philoktet Sophokles, seinem Hauptzuge nach auf der Bühne, der, den L. gewohnt ist, als den Gräßlichen zu charakterisiren, noch ist er immer der große duldende Held: und das in zween langen Auftritten!
Und beinahe fängt die Idee von seinem Elende, und von dem Versprechen des Neoptolemus an zu schwinden: fast kann man uns von seinem Schmerz zu viel erzählt, fast kann derselbe sich in neun Jahren doch wohl verringert haben? könnten wir ihn also nicht selbst leiden sehen? Wenn nichts mehr ist, als was wir gesehen haben, so – und nun kommt der Anfall. Es ist bloß ein Anfall, und ich weiß nicht, wie Hr. L. die Wahl einer Wunde rühmt,24 die doch keinen andern Vortheil bringen konnte, als ein ekles Ach fünf Akte lang zu dehnen! Sophokles wußte was bessers zu wählen – eine kurze Anwandlung. Sie legt er in die Mitte des Stücks zur Auszeichnung: sie kommt plötzlich; um so eindrücklicher wird das Gift, als eine Strafe der Götter, nicht blos als eine schleichende Krank heit: sie kommt Ruckweise, um durch ein Anhalten den Zuschauer nicht zu ermüden: sie schweift in Raserei aus, um den Zuschauer von der Pantomime mehr auf die leidende Seele zu wenden: sie wird lange von Philoktet unterdrückt, und nur mitten unter Gesprächen mit einzelnen Tönen des Jammers begleitet: sie endet sich in einem ruhigen Schlafe, und der läßt uns erst Zeit zu überdenken, was Philoktet ausgestanden. Man kann den ganzen Auftritt nicht mehr verkennen, als wenn man ihn blos für die Pantomime eines körperlichen Schmerzes, und das ganze Stück nicht mehr verkennen, als wenn Philoktet da seyn sollte, um über eine Wunde zu schreien und zu heulen. Der Anfall ist vorüber, und nach so wenig, als vor – – doch ich mag ja keinen Kommentar über Sophokles schreiben – wer urtheilen will, lese!
So kann also W. seinen Laokoon mit Philoktet vergleichen! So kann das Schreien wohl nie, und am wenigsten bei Homer der Charakterzug eines Helden gewesen seyn! So ist wohl nie Schreien das Hauptwerk des Philoktets, um Theilnehmung zu wirken, und körperlicher Schmerz nie die Hauptidee eines Drama! So hat das Schauspiel gewiß seine eigne schöne Natur gleichsam, und genaue Grenzen zwischen andern Dichtarten. So kann man es ohne Sünde eine Reihe handelnder, Dichterischer Gemählde nennen! Wer könnte uns über diese Materie besser belehren, als – der Verfasser des Laokoon und der Dramaturgie selbst, wenn er sich »über das Maas der Pantomime in der Tragödie, über die eigne schöne Natur des Drama, und über die besondern Grenzen zwischen Malerei und Schauspiel besonders erklärte?«
1 Laok. pag. 31.–49.
2 Sophocl. Philoct. Act. I.
3 Auftr. 2.
4 Auftr. 3.