Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johann Gottfried Herder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066398903
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rel="nofollow" href="#ulink_daca43c2-cee1-5fdc-92ba-39361da1564b">21 auf, und finde den Ersten ihrer Verfasser an gründlicher Philosophie in einem andern ähnlichen Falle meiner Meinung. Er untersucht, »warum die Nachahmung des Ekels uns nie gefallen können,« und giebt zu Ursachen an, »weil diese widrige Empfindung nur unsre niedere Sinne trifft, Geschmack, Geruch und Gefühl: die dunkelsten Sinne, die nicht den geringsten Antheil an den Werken der schönen Künste haben: weil zweitens die Empfindung des Ekels widrig werde, nicht durch die Vorstellung der Wirklichkeit, wie bei andern unangenehmen Eindrücken, sondern unmittelbar durchs Anschauen: und weil endlich in dieser Empfindung die Seele keine merkliche Vermischung von Lust erkennet.« Er schließt also das Ekelhafte ganz von Nachahmung der schönen Künste, und den höchsten Grad des Entsetzlichen von der Pantomimischen Vorstellung im Trauerspiele aus, »weil theils die Täuschung hierinn schwer wäre, theils auch die Pantomime auf der tragischen Schaubühne nur in den Schranken einer Hülfskunst bleiben müßte.« Ich wollte, daß der Philosophische D. sich über meinen Vorwurf erklären möchte: denn der körperliche Schmerz Philoktets hat mehr als einen dieser Gründe wider sich. Seine Täuschung kann nur den dunkelsten Sinn, das thierische Mitgefühl, erregen: die Empfindung darüber ist allemal Natur, und niemals Nachahmung: sie hat nichts Angenehmes mit sich: sie ist kaum der Illusion fähig: sie macht die tragische Bühne zur Pantomime, die, je vollkommner sie wäre, um so mehr zerstreuete. Schlechthin kann also der körperliche Schmerz keine Hauptidee eines Trauerspiels seyn.

      Aber Sophokles, das tragische Genie, fühlte nur gar zu viel dagegen, diesen Zweck zu erreichen, und gieng ganz einen andern Weg, der ihm nicht mißrathen konnte, und den Hr. L. wie es scheint, von einer Nebenseite gesehen. Ich muß aus dem vorigen Eindrucke, den ich davon geliefert, einige Züge zurücknehmen:

      1. Der erste Begriff von Philoktetes ist der Begriff eines Verlassenen, Kranken, Elenden, von Menschen, verrathenen Einsiedlers, eines Robinson Crusoe, dessen Jammervolle Höle uns gezeigt wird: diese Situation setzt Hr. L. mit der ihm gewöhnlichen Stärke aus einander.

      2. Der Elende soll noch einen neuen Streich von der List seines alten Feindes leiden: hier schwillt unsere Theilnehmung, und der Kontrast zwischen Ulysses und Neoptolemus macht die ganze Scene Menschlich.

      3. Der Chor und Neoptolem drücken die Pfeile des Mitleids tiefer in unser Herz: sie singen sein Elend in vollem Maaße. Wie begierig sind wir nun, den Mann zu sehen, der hier in der wüsten Insel eine besondere Scene spielt, und auf den neues Unglück lauert. In diesem ganzen Akt ist noch kein Philoktet zu sehen: noch weniger die Vorstellung von seinem körperlichen Schmerz Hauptidee. Sophokles hat in diesem Akt dreierlei Vorsicht, uns erst auf Philoktet lange vorzubereiten, ehe er auftritt: das Schwerste und Untheatralische in Erzälung und nicht in Handlung zu zeigen: unser Herz und unsre Phantasie ihm zu sichern, damit wir erst – auch nur seinen Anblick ertragen lernen. Und gleich als ob dieser noch nicht gnug vorbereitet wäre, muß den wilden Mann ein fern her murmelndes Ach anmelden, das sich nähert, und –

      1. Nun sind durch den Anblick der Fremden die Seufzer weg, völlig weg. Warum das? warum läßt sie Sophokles so ganz hinter der Scene? Erst muß er ihn nicht blos vor Verachtung sichern, sondern seinem ganzen ersten Anblicke nach, ist Philoktet ein leidender Held. Ich weiß nicht, warum L. diesen ersten Eindruck, in dem der Held erscheint, nicht verfolget; wimmern haben wir ihn kaum von fern gehört, jetzt sehen wir dulden. Mitten unter verbissenen Schmerzen steht und spricht der Menschenfreund, Grieche, Held – warum hat Hr. L. das Interesse nicht mehr entwickelt, das er als Grieche, als ein theilnehmender Freund der Fremden, als der Verehrer Griechischer Helden, wirket? Man kann kaum mehr für ihn sympathisiren, als man schon gestimmet ist.

      2. Und noch zeigt er eine große Seite. Der eben jetzt Flehende hört Ulysses neuen Verrath, und wie ist der flehende Elende plötzlich in einen Helden verwandelt?

      4. Das Chor bereitet uns auf die Scene des Elendes, und ist offenbar in dem Tone der Ehrfurcht gegen einen Helden, der da duldet, der so lange geduldet hat, nicht, der da schreiet. – Wie wenig, wie wenig ist doch also der Philoktet Sophokles, seinem Hauptzuge nach auf der Bühne, der, den L. gewohnt ist, als den Gräßlichen zu charakterisiren, noch ist er immer der große duldende Held: und das in zween langen Auftritten!

      So kann also W. seinen Laokoon mit Philoktet vergleichen! So kann das Schreien wohl nie, und am wenigsten bei Homer der Charakterzug eines Helden gewesen seyn! So ist wohl nie Schreien das Hauptwerk des Philoktets, um Theilnehmung zu wirken, und körperlicher Schmerz nie die Hauptidee eines Drama! So hat das Schauspiel gewiß seine eigne schöne Natur gleichsam, und genaue Grenzen zwischen andern Dichtarten. So kann man es ohne Sünde eine Reihe handelnder, Dichterischer Gemählde nennen! Wer könnte uns über diese Materie besser belehren, als – der Verfasser des Laokoon und der Dramaturgie selbst, wenn er sich »über das Maas der Pantomime in der Tragödie, über die eigne schöne Natur des Drama, und über die besondern Grenzen zwischen Malerei und Schauspiel besonders erklärte?«